In der Heimat der Großeltern

 

Geschichten aus der Heimat Schlesien – Geschichten aus dem Kreis Strehlen: So richtig interessiert haben sie mich früher nicht. Warum auch? Ich bin hier in meiner Heimat (Sauerland) geboren und Schlesien lag für mich unerreichbar fern. „Schlesien“ war wohl ein Begriff für mich, denn mein Vater stammte aus Mittelmehltheuer. Aus seinen Erzählungen wusste ich, dass er ein Schlesier ist, und es fiel mir immer wieder auf, wie herzlich Schlesier sich begrüßten, wenn sie sich trafen und wie groß die Freude dann war. Dennoch – ein Bezug zu der Heimat der Ahnen hatte ich nicht. Dieses änderte sich jedoch, als ich mich näher mit dem Thema Schlesien beschäftigte.

Nun bin ich fast 10 Jahre im Vorstand der Bundesheimatgruppe Stadt und Kreis Strehlen. Was mir an dieser Arbeit am besten gefällt, ist der Kontakt mit den zahlreichen Heimatfreunden, die mit Dankbarkeit und Freude meine Arbeiten annehmen. In den Gesprächen mit ihnen kristallisiert sich immer wieder das gleiche Problem: „Unsere Kinder und Enkel wollen nichts von Schlesien hören. Sie zeigen keinerlei Interesse!“ Das Angebot, die Kinder bzw. die Enkel mit in die alte Heimat zu nehmen wird mit Desinteresse ausgeschlagen: „Was sollen wir denn da?“ Immer wieder höre ich diese Klagen und immer wieder spüre ich den Schmerz der Betroffenen. Ebenso oft höre ich aber auch von Kindern bzw. von Enkeln Heimatvertriebener, dass sie sich „plötzlich“ sehr für die Heimat ihrer Vorfahren interessieren, obwohl sie früher gar nichts von dem Thema hören wollten. Besonders traurig sind sie dann, wenn die Eltern oder Großeltern diesen Sinneswechsel nicht mehr miterleben durften, denn sie wissen genau, wie viel Freude sie ihnen damit bereitet hätten.

Offensichtlich liegt es in der Natur des Menschen, dass er mit zunehmendem Alter mehr Interesse an seiner Herkunft zeigt, zu suchen, wo seine Wurzeln herstammen. Bei dem Einen kommt es früher, bei den Anderen später. Wo ist es nicht so???

 

Bei Silke und Heiko Preußer, Tochter und Sohn der Eheleute Ingrid und Klaus Preußer, kam das Interesse früher. Nicht, dass sie die Heimat vom Vater Klaus – Bochum – näher kennenlernen wollten. Nein, sie wollten die Heimat ihrer Mutter Ingrid - Hussinetz/Friedrichstein - besuchen. Wie oft wurde es ihnen in den vergangenen Jahren  angeboten: „Fahrt doch bitte mit!“ Die Reaktionen sahen zunächst auch nicht anders aus, wie bei anderen Jugendlichen. Doch dieses Jahr sollte es anders sein. Diesmal gaben sie „grünes Licht“, dass sie uns bei der nächsten Strehlenreise begleiten würden. Ein besonderes Phänomen ist, dass Silke nahezu alle Straßen in Strehlen und alle Orte im Kreis Strehlen kennt, obwohl sie niemals dort gewesen ist. Die Erklärung hierfür ist einfach: Sie verwaltet und aktualisiert  die Adressdatei der Bundesheimatgruppe.

Am Mittwoch, dem 4.7.2007, war es endlich so weit. Wir - die Familie Preußer, Kristina und ich – erreichten am frühen Mittag die polnische Grenze und wählten als Route die Landstraße über Hirschberg nach Strehlen. Silke und Heiko bestaunten die doch häufig verfallenen Häuser in den Orten, die nicht gerade einladend aussahen. „Wie würden sie wohl Strehlen aufnehmen?“, stellte sich mir die Frage. Wir machten einen Stopp in Hirschberg und schauten uns den schönen Ring dort an. Leider war es regnerisch, so dass man nicht den vollen Glanz dieser Stadt erkennen konnte. So fuhren wir weiter und erreichten spät abends Strehlen. Wir hatten getrennte Quartiere. So wohnte die Familie Preußer bei Herrn Kijowski in der Altstadt und wir im Hotel Maria. Da ich im Vorfeld dieser Fahrt gelegentlich gehört hatte, dass man im Hotel Maria nicht mehr gut übernachten könne, war ich gespannt, was uns erwarten würde. Diese Meinung konnten wir jedoch nicht vertreten. Im Gegenteil: Was das Quartier und den Service angeht, hat sich das Hotel Maria in den letzten Jahren stetig gesteigert.

 

Am Donnerstag besuchten wir natürlich zu allererst Hussinetz. Silke und Heiko wollten die Wege gehen, die auch ihre Großeltern (Hermann und Frieda Papesch) gegangen sind. So wählten wir den Weg zum Windmühlberg und bogen rechts auf den „Grünen Weg“ ab. Von dort aus konnte man den Marienberg mit dem Hotelturm sowie Strehlen mit der katholischen Kirche betrachten. Auch die Zuckerfabrik, die Gefängnisanlage und der Granitsteinbruch waren von hier aus gut zu sehen. Was mich persönlich störte, war ein neu errichteter Silo-Turm neben der Zuckerfabrik, der das Landschaftsbild derbe störte. Wir kamen beim Kriegerdenkmal heraus. Nur wenige Meter weiter wohnt die Schwarz Emma mit ihrem Mann, die wir natürlich besuchten. Dann ging es weiter. Nur ein Steinwurf entfernt war die Landwirtschaft der Großeltern von Silke und Heiko. Ein aufregender Moment für beide. Gegenüber waren die Felder, die der Großvater Hermann Papesch mit Hilfe seiner Frau Frieda in mühevoller Arbeit bestellt hatte. Jetzt wurden hier schon neue Häuser gebaut. Es ging weiter zur Sonntagsschule (Pultar-Saal), von dort aus zur Schule und Schmiede in Mittelmehltheuer und dann zum Steinbruch. Von hier aus ging ein Schleichweg zur Ziegenbergreihe und schließlich zurück nach Strehlen, wo wir eine Mittagspause einlegten. Am Nachmittag besichtigten wir Strehlen. Natürlich galt unser erster Besuch unserem Freund „Paul“ (Herr Zbigniew Kazimierowicz), der einen kleinen Teeladen am Ring besitzt.  Von dort aus ging es zur Post, entlang der Zwingerstraße zum Pietrulla-Haus, über die Klosterstraße kamen wir am ehemaligen Amtsgericht vorbei zum Ring. Von der Großen Kirchstraße bogen wir ab zur Gotthardkirche, überquerten den Schulplatz und besuchten von dort aus den ehemaligen evangelischen Friedhof, der nur noch eine grüne Parkanlage ist. Da das Wetter sich sichtbar verschlechterte, unterbrachen wir den Rundgang. Silke und Heiko waren positiv vom Stadtbild überrascht. Gegenüber dem Bild, das sie sich von der Fahrt durch die Ortschaften gemacht hatten, hob sich das von Strehlen aus ihrer Sicht deutlich ab.

Am Freitag sollte ein weiterer Höhepunkt folgen: Breslau sowie der Heimatort der Großmutter, Jelline/Großburg, standen zur Besichtigung an. Aber bevor es losging, verschaffte uns unser Freund Paul Einlass in den Rathausstumpf, der aufgestockt und ausgebaut wurde. So bestiegen wir den Turm. Von dort aus hat man eine hervorragende Aussicht in alle Himmelsrichtungen. Nach der Besichtigung fuhren wir schließlich nach Breslau. Auf dem Weg dorthin sollten wir durch Großburg kommen. Im benachbarten Jelline steht das Geburtshaus der Großmutter Frieda Papesch (geb. Pauli). In der Kirche zu Großburg wurde sie getauft und auch vermählt. Also besichtigten wir mit Silke und Heiko die Großburger Kirche, die mittlerweile schön renoviert wird. Die Arbeiten sind fast abgeschlossen. Danach machten wir einen Abstecher nach Jelline. Von dort aus fuhren wir schließlich nach Breslau weiter, dessen Ring immer wieder einen Augenfang darstellt. Natürlich ließen wir es uns nicht nehmen, dem Schweidnitzer Keller einen Besuch abzustatten. Wir wanderten zur Dominsel und bewunderten den Blick über die Oder zum Dom. Am späten Nachmittag ging es dann zurück nach Strehlen. Von dort aus fuhren wir nach Prieborn. Hier wurde vor nicht allzu langer Zeit eine Gedenktafel zu Ehren des Kirchenmusikers Max Drischner angebracht, die wir fotografieren wollten. Sie hängt an der Außenwand der Prieborner Kirche. Wir hätten zwar gerne die Kirche von innen besichtigt, doch verweigerten uns  einige Frauen den Eintritt. So fuhren wir zurück nach Strehlen und besuchten dort den böhmisch–reformierten Friedhof, der mittlerweile sehr wüst und verwachsen aussieht. Hier müssen auch die Urgroßeltern und andere Vorfahren von Silke und Heiko begraben sein. So suchten die beiden wie auch ich früher vergeblich unter dem wuchernden Grün nach Tafeln oder Hinweisen, die anzeigen sollten, an welcher Stelle genau ein Vorfahre liegt.

 

Am Samstag stand für uns eine Premiere an: der Zobten. Ein Berg, den wir bei jedem Strehlenbesuch am Horizont sehen konnten. Er wird auch als „der Berg Schlesiens“ bezeichnet. Diesmal wollten wir ihn besteigen. Das Wetter war ideal, viel Sonne – aber nicht zu heiß. Wir fuhren auf einen Wandererparkplatz, der von vielen Ausflüglern als Ausgangspunkt zur Zobten-Besteigung genutzt wird, und parkten dort unsere Autos. Dann ging es zu Fuß aufwärts. Nach einer guten Stunde hatten wir die Spitze des Zobten erreicht. Von dort aus hat man einen fantastischen Blick in die Ferne vor allem auf die Breslauer Ebene. Das Gebiet um Strehlen war leider nicht zu sehen, weil in dieser Richtung die Bäume noch zu hoch standen. Trotzdem war es ein gelungener Ausflug. Auf der Spitze des Zobten steht noch heute eine alte Kirche, deren Eingänge jedoch zugemauert sind. Wir bestaunten nur die Tatsache, dass man früher solche Strapazen auf sich nahm, ein Gotteshaus in einer solchen Höhe zu bauen. Abwärts wählten wir einen Weg direkt durch den Wald, der zunächst sehr steinig und unwegsam war. Dennoch entschädigte uns der Anblick der Natur und wir erreichten schließlich gut gelaunt unsere Autos. Nach einem kleinen Picknick auf einer extra dafür geschaffenen Anlage neben dem Parkplatz fuhren wir schließlich wieder nach Strehlen. Silke und Heiko hätten noch viele Dinge besichtigen können, aber sie mussten erst einmal die zahlreichen Erlebnisse verarbeiten. Besonders erfreulich war ihre Antwort auf das Angebot weiterer Besichtigungen: „Wir wollen noch etwas für die nächste Fahrt nach Strehlen aufbewahren, denn dies war bestimmt nicht unsere letzte Fahrt hierhin!“

 

Am Sonntag hieß es, Abschied von Strehlen zu nehmen. Mit dem Gefühl, in der Heimat der Großeltern gewesen zu sein und mit einer Fülle von neuen Eindrücken traten Silke und Heiko mit uns die Rückfahrt an.

 

Silke und Heiko haben mit ihrer Teilnahme besonders ihrer Mutter eine große Freude bereitet und ohne Zweifel würde sich jeder Heimatfreund freuen, wenn die eigenen Nachkommen ebenso dieses Interesse für die Heimat Schlesien zeigten. Die Erfahrung lehrt uns: Das Interesse an der Heimat Schlesien lässt sich nicht aufzwingen. Früher oder später wird es automatisch geweckt. Ich wünsche Ihnen, dass sie diese Freude ebenfalls erleben dürfen.

 

Dr. H.-W. Fleger