Horst Milde

 

 

 70 Jahre Landsmannschaft Schlesien

Festrede von Schlesierschildträger und Landtagspräsident a.D. Horst Milde

 

Am 11. Oktober 2020 fand im Hannover Congress Centrum (HCC) der Festakt „70 Jahre Landsmannschaft Schlesien“ statt. Bei dieser Veranstaltung wurde die Festansprache von dem 1933 in Breslau geborenen ehemaligen niedersächsischen Landtagspräsidenten Horst Milde gehalten, der anschließend mit dem Schlesierschild, der höchsten Auszeichnung der Landsmannschaft Schlesien, geehrt wurde. Für seine Festansprache haben sich die Zuhörer mit stehenden Ovationen bedankt.

 

Wir präsentieren die von Horst Milde gehaltene und in allen Teilen ausgezeichnete Festansprache hier ungekürzt:

 

70 Jahre Landsmannschaft Schlesien. Was wären wir Schlesier ohne Landsmannschaft? Wir wären nichts anderes, als ein in alle Winde verstreuter, vergessener, im Geschichtsloch verschwundener deutscher Volksstamm. Das sind wir aber nicht, weil es in schwerer Zeit schlesische Persönlichkeiten gab, die von Heimatliebe, Selbstachtung und Weitsicht getragen unsere Landsmannschaft gründeten. Damit haben wir uns selbst bewahrt.

Der Gründung auf Bundesebene vorausgegangen war das von den Besatzungsmächten gegenüber den Vertriebenen ausgesprochene Verbot, sich in landsmannschaftlichen Verbänden zu organisieren. Den Militärregierungen und leider auch den eingesetzten deutschen Behörden erschienen „Flüchtlingsorganisationen“ als Bedrohung von Ruhe und Ordnung. Unseren Eltern stand der Sinn nicht nach Unruhe. Sie waren - auch wenn sie es nicht zeigten - tief traumatisiert. Alles, was Unzähligen an unmenschlichem Leid zugefügt wurde, schmerzte. So war für sie und uns, die wir damals Kinder waren, nicht der 8. Mai 1945, sondern - so eigenartig es klingen mag - die völkerrechtswidrige Vertreibung aus der Heimat die Befreiung, die Befreiung von verbrecherischer Herrschaft und Verfolgung.

In dieser Vertreibungszeit galt nur das Siegerrecht. In der sowjetischen Besatzungszone gab es im Sprachgebrauch keine Flüchtlinge, schon gar keine Vertriebenen, es waren alles Umsiedler oder Neubürger. In den westlichen Zonen war es nicht anders. Auch hier waren wir im amtlichen und auch im umgangssprachlichen Verkehr ganz im Sinne der Sieger wenigstens „Flüchtlinge“. Diese Sprachverwirrung dauert leider bis heute an. Gedankenlos wird immer noch vielfach von uns als „Flüchtlingen“ gesprochen. Dieses Verhalten geht auf eine Meisterleistung der psychologischen Kriegsführung zurück. Die „Re-Edukation“ hat ein sehr langes Verfallsdatum.

 

In der Fremde suchten wir alle Trost in der Schicksalsgemeinschaft der Landsleute. Wir vergaßen nicht das „zehnfach interessante Land“ mit seinem unschätzbaren Reichtum, mit seinen Seen im Norden, seinen Bergen im Süden, seinen fruchtbaren Böden - sie waren die Kornkammer Deutschlands -, seinen reichen Bodenschätzen, seinen berühmten Bädern, seinen geschichtsträchtigen Städten, Kirchen, Klöstern und Schlössern.

 

Unser Wille zusammenzuhalten war stark. Wir haben uns soweit es ging gegenseitig geholfen, nicht zuletzt in dem Bestreben die materielle und seelische Not zu lindern. Wir kämpften hungrig Tag für Tag ums Überleben und trugen zugleich zum Wiederaufbau unseres zerstörten und geschundenen Landes bei. Wir trafen uns in „Flüchtlingsvereinen“, den Vorläufern der Landsmannschaften und des Bundes der Vertriebenen. Viele fanden Kraft im Glauben oder wieder im Glauben. Not lehrt beten. Wir praktizierten in schlesischer Toleranz Ökumene und kannten das heute gebrauchte Wort nicht. Wir fanden Trost im verbindenden Zauber der Musik und sangen in der Gemeinschaft unsere vertrauten heimatlichen Lieder. Diesen Schatz konnte uns niemand rauben.

 

Es blieb nicht aus, dass es gegen das Vereinigungsverbot der Besatzungsmächte Proteste gab, bis es schließlich in den westlichen Besatzungszonen Ende 1948 aufgehoben wurde. Am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet. Nicht einmal ein Jahr später, am 25. März 1950 unsere Landsmannschaft. Der Selbstbehauptungswille - verbunden mit der vielfachen Hoffnung auf Rückkehr in die Heimat - hatte sich durchgesetzt. Dieser starke Wille war die Quelle, aus der unsere überparteiliche Landsmannschaft hervorging. Viele Hunderttausende haben diese Quelle gespeist. Der Hauptverdienst daran kommt zwei Männern zu: zum einen Dr. Hans Lukaschek, er war Bundesvertriebenenminister im ersten Kabinett Adenauer. Zum zweiten Dr. Walter Rinke, er war als Ministerialrat Mitarbeiter von Dr. Hans Lukaschek und wurde unser erster Vorsitzender. Beiden und allen anderen, die ihren Anteil an der Gründung haben, können wir in großer Ehrfurcht nicht dankbar genug sein.

Walter Rinke begann sofort mit der organisatorischen Arbeit. So ist es unglaublich, dass schon ein gutes halbes Jahr nach der Gründung im Oktober 1950 in Köln das erste bundesweite Schlesiertreffen mit 150.000 Teilnehmern stattfand. Zuvor gab es hier in Hannover schon im September 1949 ein von der niedersächsischen Landesgruppe der Landsmannschaft Schlesien organisiertes Treffen. An ihm nahmen 80.000 Schlesier teil. 1951 in München demonstrierten 200.000, 1952 in Hannover 300.000 Schlesier. Ich erinnere mich noch an ein unübersehbares Transparent vor dem Hannoverschen Hauptbahnhof mit dem Text „Niedersachsen grüßt die Schlesier“. Beim vierten Bundestreffen in Köln bewiesen 400.000 Teilnehmer ihre Treue zur Heimat. Größere Bekenntnisse konnte es nicht geben.

Die Tatkraft und die Organisationsfähigkeit, die unsere landsmannschaftlichen Führungen unter den damaligen äußerst schwierigen Lebensumständen aufbrachten, sind nur zu bewundern. Zu diesen größten Treffen der damaligen Zeit wurden von deutschen Spitzenpolitikern Reden gehalten oder Grußworte geschickt, deren Bekundungen sie nach wenigen Jahren vergessen hatten.

 

Zurück zum Jahr 1950 und dem besonderen Verhältnis der Schlesier mit Niedersachsen. Noch vor der Gründung unserer Landsmannschaft bat Walter Rinke den Niedersächsischen Minierpräsidenten Hinrich-Wilhelm Kopf schriftlich um die Übernahme der „Patenschaft für die gesamtdeutsche schlesische Landsmannschaft“. Ein gutes halbes Jahr nach der Gründung unserer Landsmannschaft wurde dem Wunsch nach Übernahme für das „Gebiet der Bundesrepublik Deutschland und Berlin“ entsprochen.

Im Laufe der vergangenen 70 Jahre blieb es leider nicht aus, dass die Patenschaft mehrfach mit den jeweiligen Landesregierungen erheblichen Spannungen ausgesetzt war.

Von der 1990 von SPD und Grünen gebildeten Landesregierung wurde damals die Patenschaft nicht aufgekündigt, aber - vorsichtig beschrieben - zeitweilig nur „symbolisch“ fortgeführt. Als Reaktion auf dieses ideologisch motivierte Verhalten fanden ab 1991 unsere Bundestreffen nicht mehr in Hannover, sondern in Nürnberg statt. Die bayrische Staatsregierung bekannte sich auch ohne Patenschaft voll zu unserer Landsmannschaft. Das ist unvergessen.

Nach der 1994 in Niedersachsen gebildeten sozialdemokratischen Alleinregierung verbesserte sich das Verhältnis zu unserer Landsmannschaft und wurde zunehmend dem Geist der Patenschaft wieder gerecht. Seit 2007 feiern wir hier in Hannover, der „Hauptstadt der Schlesiertreffen“ wieder unsere Bundestreffen, es gibt seit 1977 ununterbrochen den „Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen“ und seit 2019 Dank des erfreulich positiven Verhaltens der jetzigen Landesregierung wieder ein Verbindungsbüro hier in Hannover.

 

In den zurückliegenden 30 Jahren haben sich Beziehungen von uns vertriebenen Schlesiern zu den Bewohnern unserer Heimat zunehmend positiv verändert. Zu dieser Entwicklung gehört, dass nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Abschluss der Deutsch-Polnischen Verträge das Land Niedersachsen 1993 einen Partnerschaftsvertrag mit der damaligen Woiwodschaft Breslau abgeschlossen hat, der im Jahr 2000 auf die neu gebildete Woiwodschaft Niederschlesien übertragen wurde. Seitdem hat sich, nicht zuletzt durch den Beitritt Polens zur Europäischen Union und dem damit verbundenen Wegfall der Grenzen, das Verhältnis immer mehr entspannt und normalisiert. Es sind vielfältige Bindungen entstanden. Auf zahlreichen Ebenen wird partnerschaftlich zusammengearbeitet. Kommunale- und Schulpartnerschaften wurden geschlossen. Auch Freundschaften mit polnischen Familien sind keine Seltenheit. Für das dabei entstandene tolerante Miteinander gibt es mehr als genug sicht- und erlebbare Beispiele. Um nur zwei ganz unterschiedliche Sichtbare aus Breslau zu nennen, die neben vielen anderen dem um die deutsch-polnische Freundschaft hochverdienstvollen Direktor der Breslauer Museen, Dr. Maciej Lagiewski, zu verdanken sind: Das eine: Vor 22 Jahren durfte ich aus Anlass des 200. Geburtstages von Karl von Holtei an seinem Geburtshaus in Breslau gemeinsam mit dem Stadtpräsidenten Bogdan Zdrojewski, dem späteren Minister für Kultur und Nationales Erbe, eine in Deutsch und Polnisch gehaltene große Gedenktafel enthüllen. Auf ihr steht das sehnende schlesische Wort „Suste nischt ack heem“. Das andere sichtbare Beispiel ist das Breslauer Königsschloss mit seiner großartigen Dauerausstellung „1000 Jahre Breslau“. Dort wird über die Geschichte der schlesischen Hauptstadt in größter Objektivität berichtet, wie es in Deutschland nicht besser sein könnte.

 

Das neue Miteinander war nur möglich, weil feindselige Ideologien entsorgt wurden und an ihre Stelle die historische Wahrheit und im Miteinander menschliches Verständnis getreten sind. Zu dieser guten Entwicklung hat unsere Landsmannschaft im Sinne der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, diesem weltweit einmaligen Zeugnis humanistischer Gesinnung, wesentlich beigetragen. Das gilt auch für die anderen Landsmannschaften. Für diese im Sinne der Charta betriebene Versöhnungs-, Verständigungs- und Friedensarbeit hätte der Bund der Vertriebenen längst den Friedensnobelpreis verdient.

In Deutschland sind trotz aller Lippenbekenntnisse der Verlust eines Drittels des Staatsgebietes und die Vertreibung von 15 Millionen Staatsangehörigen weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein - eingebettet in eine selektive Geschichtsdarstellung - ausgeblendet. Vor ein paar Tagen am 3. Oktober, am Tag der Deutschen Einheit, zeigte es sich wieder einmal deutlich, als von den Ostdeutschen gesprochen wurde und Brandenburger, Sachsen, Sachsen-Anhaltiner, Thüringer oder Mecklenburg-Vorpommern damit gemeint waren. Dazu gehören auch die jahrelangen mehr als beschämenden Auseinandersetzungen um einen vom Bund der Vertriebenen und allen Landsmannschaften geforderten Nationalen Gedenktag oder um das Zentrum gegen Vertreibungen in Berlin. An diesen Beispielen ist sichtbar, dass in Deutschland viel zu vieles vom schleichenden Umbruch der herkömmlichen Werte erfasst ist. Mehr denn je muss deshalb an die verfassungsrechtlich festgelegte Wahrungspflicht zur Erhaltung der Identität des Deutschen Staatsvolkes, zu dem wir Schlesier gehören, erinnert werden. Zu dieser Wahrungspflicht zählt nicht nur die demografische und ethnische Erhaltung unseres Volkes, sondern auch die Erhaltung der deutschen Sprache und Kultur und damit auch unserer reichen schlesischen Kultur. Diesem verfassungsrechtlichen Auftrag war sich unsere Landsmannschaft in den vergangenen 70 Jahren immer bewusst.

 

Was wird die Zukunft bringen? Werden unsere Nachkommen noch einmal 70 Jahre im Frieden leben dürfen? Wie lange werden die Kriege in anderen Erdteilen noch andauern? Warum ist die Aufrüstung wichtiger als die Abrüstung? Droht unser Land in einem Multikulturalismus aufzugehen? Wird es im herkömmlichen Sinne Deutschland noch geben?

 

Von den kommenden Entwicklungen bleibt unsere Landsmannschaft nicht unberührt und kann sich allen damit verbundenen Herausforderungen nicht entziehen. Wir brauchen dabei keine alten und noch viel schlimmer neuen Nationalismen, sondern Menschen, die begreifen, dass unsere Zukunft nur eine gemeinsame sein kann. Eine Zukunft, in der Polen und Deutsche wie über Jahrhunderte hinweg im Frieden schwesterlich und brüderlich leben dürfen, damit für alle der Weg in eine bessere Zeit, in ein hoffentlich einiges, geeintes Europa führt.

 

Unsere Landsmannschaft kann dabei an den von ihr gesteckten Zielen und Forderungen weiter festhalten:

Das Eintreten für eine Völker- und Staatenordnung, die Kriege und Vertreibungen ächtet,

die Einhaltung und Verwirklichung internationaler Friedensabkommen,

das demokratische und patriotische Handeln für unser Volk und Vaterland,

die Bewahrung der schlesischen kulturellen Traditionen und damit verbunden

die Sichtbarmachung des schlesischen Beitrages zur deutschen und europäischen Kultur bis hin zum Eintreten für die Rechte und die Zusammenarbeit mit den Landsleuten in der Heimat und nicht zuletzt die Weitergabe dieser Aufgaben an die nachwachsenden Generationen.

Das sind die Kernaufgaben.

 

Alles in allem: Unsere Landsmannschaft ist unverzichtbar:

Sie muss immer noch Fehlendes anmahnen, so nicht vorhandene Lehrstühle und ungenügenden Geschichtsunterricht.

Sie ist ein Stück geretteter Heimat in der Ferne.

Sie vertritt Werte, die vielfach verloren gegangen sind.

Sie ist ein Stück deutschen Gewissens.

 

Von Leopold von Ranke stammt der Satz „Nichts mehr bedarf eine Nation als einen Überfluss an edlen Männern, - ich füge hinzu: heute sind Frauen einbezogen - die sich dem Allgemeinen widmen“. Für unsere Landsmannschaft trifft diese Aussage zu. Froh dürfen wir sein, dass wir von Persönlichkeiten geführt wurden und auch heute geführt werden, die sich mit ganzer Hingabe der großen Aufgabe verschrieben haben. Dafür ist allen zu danken - stellvertretend für sie nenne ich Dr. Herbert Hupka -, die von der Bundes- bis zur Ortsebene dieses Werk in den vergangenen 70 Jahren selbstlos und voller Idealismus mittrugen und jetzt fortführen.

 

Wir können stolz auf sie und unsere Landsmannschaft sein!

 

Schlesien lebt!

Schlesien Glückauf!