Dr.
Hans-Dieter Langer: Ein Stück Geschichte von Hussinetz
in Schlesien
Anmerkung für den Leser
Dies ist ein Leseauszug aus einem in Arbeit befindlichen Buch über
das schlesische Hussinetz, dem Geburtsort des Autors
Hans-Dieter Langer, der mit seiner Frau Ellentraud
eine neue Heimat im Haus Ellen zu Niederwiesa/Freistaat
Sachsen gefunden hat. Er fragt sich jetzt allerdings mit dieser historischen
Dokumentation, die zugleich unterhalten soll, woher er eigentlich wirklich
kommt, wer seine Ahnen waren und warum das Dorf Husinec-Hussinetz-Friedrichstein-Gesiniec
eine so bewegte, eine wahrhaft europäische Geschichte aufzuweisen hat.
Der nachstehende Abschnitt ist nicht abschließend bearbeitet. Auch fehlen bei
Literaturzitaten (L) noch die bibliographischen Angaben, und es sind geplante
Bilder nicht eingefügt.
Im Prolog ist von Minka die Rede. Sie kommt bereits im Abschnitt „Das
Kriegskind erinnert sich“ vor. Die geliebte Katze ist übrigens in Ausübung
ihrer eigentlichen Pflicht in freier Wildbahn vergiftet worden. Dieses
scheinbar völlig belanglose Ereignis war aber Teil einer seit dem Jahr 1749
nachweislichen Dorfidylle, die durch den 2. Weltkrieg und seine schrecklichen
Folgen nahezu vollkommen zerstört worden ist. Ging aber dadurch tatsächlich und
endgültig auch eine einzigartige Dorfgemeinschaft unter?
Außerdem leitet Minka unmittelbar zum vorliegenden Abschnitt „Hänschen und die
kleinen Tiere“ über, in dem der aufmerksame Leser sicher nicht nur
unterhaltsame Tiergeschichten und auch nicht nur das ganze Glück und Elend
eines kleinen Jungen erkennen wird, sondern möglicherweise auch an das Wesen
von Krieg und Frieden, von Menschen und Nachbarn, von Ursache und Wirkung,
erinnert wird. Sind nicht gerade Tiere dazu besonders geeignet?
Gelegentlich kommen im Text Ortsangaben vor, z.B. (177/Aue). Sie bezeichnen Haus-Nr. und Ortsteil bzw. Strasse in einem Lageplan von Hussinetz, der in anderen Abschnitten genau beschrieben
wird. Die kursiv gestellten Worte (ohne Anführungszeichen) entsprechen der
Ausdrucksweise, wenn in der engeren Heimat, dem Kreis Strehlen, genauer in Hussinetz-Friedrichstein, „deutsch“ gesprochen worden ist.
Das war in preußisch-deutschen Zeiten gerade in Husinec
und in Hussinetz gelegentlich durchaus ungewollt,
weil man aus Tradition das Böhmische vorzog. Dann aber wurde Deutsch in den
folgenden Reichen zur Pflicht, was schließlich in der Bezeichnung
Friedrichstein gipfelte. Nachdem vom Geburtshaus (5/Kauba-Reihe)
freilich eine Zeit lang sogar russische Befehle ausgingen - was zudem nichts
weniger als die physische Vernichtung der halben Dorfschaft zur Folge hatte -
wurde die Muttersprache auch noch zu Gunsten des Polnischen verboten: Gesiniec!
Als Hänschen nach der Vertreibung endlich wieder auf deutschem Boden Fuß
fasste, schwirrten in seinem Kopf die Sprachen von vier Nationen bleibend
herum, und ... aus ihm war ein Hans geworden ... der nun wieder richtig Deutsch
lernen musste.
Doch erwiesen sich meine schlesischen Vokabeln als Erhaltungsgrößen, genau so
wie die Liebe zur alten Heimat.
Hänschen
und die kleinen Tiere
Prolog
Die bereits erzählte Tragödie von Minka, unserer geliebten Katze, dürfte
auch in tiefsten Friedenszeiten passieren können. Dabei hatten wir - noch kein
kommendes Unheil ahnend - die Chance vertan, ihren eines Tages präsentierten
Nachwuchs aufzupäppeln und damit ihre liebenswerte Art wenigstens in
genetischer Kopie zu erhalten. Allein der Gedanke an den Winter und die zu
dieser Zeit allgemeine Nahrungsnot bedeutete dem gegenüber sofort für den
gesamten Wurf das Todesurteil. Ausgerechnet Hänschen übernahm die Rolle des
Henkers: Ein Sack, ein Stein und der Rest hinein, so geschehen in einem
ehrenwerten Granitsteinbruch zu Hussinetz.
Diese frühe Missetat zog sich wie ein Fluch durch mein Verhältnis zu den
kleinen Tieren während des kurzen Aufenthalts in meiner schlesischen Heimat.
Wenn mich auch an den in einem anderen Abschnitt geschilderten minösen Unglücksfällen von großen Vierbeinern, den betroffenen Kühen und
Pferden im „Krieg nach dem Krieg“ - über den ich berichtet habe - keine Schuld
trifft, so leitet doch allein die Erinnerung daran höchst militant zu meiner
damals zeitweise völlig verdorbenen Beziehung zum kleinen Tier über. Über allem
steht aber die Schuld des unsäglichen Krieges, denn wir waren Kinder. Bei
anderen Vorzeichen hätte gewiss jeder von uns in der direkten Konfrontation
jene geheimnisvolle Liebe zur tierischen Kreatur entwickelt, die nun einmal in
den kindlichen Zellen steckt. Es musste aber an erster Stelle der Hunger
besiegt werden. Einige andere hoffnungsvolle Ansätze scheiterten zudem wie
Minka.
Im Zeichen
der Fische
Der Fisch im Brunnen
Mein Geburtsdatum fällt astrologisch ins Zeichen der Fische. Deshalb beginne
ich mit dieser Kategorie, zumal sie mich seinerzeit besonders beschäftigt hat.
Fische gehören ins Wasser. Im Trinkwasser haben sie dagegen nichts zu suchen.
Ich bin nicht sicher, ob ich nicht selbst der auslösende Täter war. Jedenfalls
schwamm ein Fisch (!) einst in unserem Brunnen. Beim Wasser schöpfen tauchte er
selbstverständlich ab, doch man konnte sich heran schleichen.
Dieses Geheimnis wurde niemandem nicht verraten.
Der
Fisch im Eis
Der nach dem Krieg verwahrloste Teich in Höhe der zerstörten neuen Schule
(177/Aue) hatte einen tiefen Schacht mit seitlicher Öffnung. An dessen Standort
gab es noch eine Zeit lang viel Wasser und darin ... noch mehr Fische. Man
konnte von oben wie in einen belichteten Tiefbrunnen hinein schauen. Manche der
Tiere waren für meine Verhältnisse sehr groß. Sie haben aber leider alle die
Vernachlässigung des Anwesens und schließlich die totale Austrocknung des
Tümpels nicht überlebt bzw. so mancher dürfte im Kochtopf gelandet sein. Doch
sie regten meine Phantasie an, und ich wollte einen lebenden Fisch haben. Eines
Tages bekam ich einen geschenkt und dazu von Mama eine Kristallglasschale als
Aquarium zugeteilt. Das Tier war so groß (oder das Glas so klein), dass es sich
in seinem neuen Element kaum wenden konnte. Umso genauer durfte ich es
ungestört betrachten, wobei das gekrümmte Glas mit dem Wasser wie eine Linse
wirkte. Bald entdeckte ich zudem ein bezauberndes Spiel der Farben in der
„kristallenen“ Hülle. Der Fisch konnte also nicht dafür, dass er schon jetzt in
Vergessenheit geriet. Dafür wurde der Zusammenhang mit dem Licht der Sonne
schnell erkannt. Die entfachte Experimentierfreude entführte schließlich
Schale, Fisch und Wasser ins Freie, zu meinem Spielplatz an der Mauerecke, in
die Sonne! Im Traum nachher meldete sich möglicherweise wieder der Fisch, denn
ich konnte das Wiedersehen am nächsten Morgen kaum erwarten. O weh, der Fisch
steckte jetzt im Eis! Es hatte sich in der Nacht Frost eingestellt, und das
Wasser war durchgängig gefroren. Das arme Tier „stand“ nun ausgerichtet exakt
in der Mitte der länglichen Schale. Ich ordnete in meiner Verzweiflung ein Aufschmelzen an, doch es kam jede Hilfe zu spät.
Der Fisch am Spieß
In einer Art von Umkehrung der Schuldverhältnisse sehe ich mich später mit
anderen Buben am Bach mit Spießen bewaffnet ... auf der Jagd nach Fischen. Man
befestigte eine Küchengabel mit Bindfaden an einem besonders langen Stock. Der
Rest war Übungssache. So gelangte manche vom Blitz getroffene Zappel-Forelle
in Mutters Bratpfanne. Leider waren die schmackhaften Fische bald ausgerottet,
und die Lergen schauten sich nach neuen Opfern
um.
Krebsrot im kochenden Wasser
Es gab da in den umliegenden Gewässern tatsächlich noch eine andere Beute für
böse, mutige Buben, nämlich Krebse. Hatte man einmal die Gepflogenheiten dieser
unglücklichen Lebewesen begriffen, so ging es ihnen leicht an den Kragen. Sie
hielten sich im Wasser gern am Gewässerrand unter den Uferüberhängen auf.
Streckte man dort die Finger aus, dann fühlen sie sich zu Recht angegriffen und
schnappten mit ihren Scheren zu. Das spürte man heftig und zog ganz schnell die
Hand aus dem Wasser, ha, da hing der Happen dran! Waren einige Stück im Eimer,
zog sich der Jäger zum Mahl zurück. Das sah dann so aus, dass die
unvorsichtigen Kerle gleich lebend in kochendes Wasser geworfen wurden, um sie
fachgerecht zu garen. Trat die charakteristische rote Farbe ein, war das Werk
vollendet. Das Essen konnte beginnen, indem man die Haut öffnete und das total
weiße Fleisch verwertete. Eine wahre Delikatesse für Kenner!
Wir waren damals hungrige und daher gnadenlose Bengel. Die Praxis der
Verarbeitung solcher Krabbeltiere in einschlägigen Küchen ist freilich auch
heute noch so, doch ich kann einfach nicht mehr an dieses Essen denken.
Ich würde diese Art der Zubereitung sogar verbieten!
Als Hecht an der Angel
Gelegentlich nahm ich mir schon die Freiheit, allein zum Zwölf-Häuser-Bruch zu
gehen, der von zu Hause mehr als 1 km entfernt lag. Unterwegs fand ich einen
kaputten Schirm, was bei mir die fixe Idee auslöste, zu angeln. Ich ging noch
einmal zurück, um mir Zwirnsfaden und eine Sicherheitsnadel zu besorgen. Vom
Schirm konnte geschickt einer der Spannstäbe gelöst werden, der ja den kühnen
Denkprozess erst auslöste. Er glich mit seiner Öse an der Spitze (für die
Zwirn-Angelschnur) ebenso einer perfekten Angel, wie sich aus einer Sicherheitsnadel
schnell ein echter Angelhaken biegen lässt. Nun fehlte nur noch ein
Fisch-Köder, nachdem in Gedanken kein geringerer, denn ein Hecht als Jagdwild
vereinbart worden ist. Man hatte ja schon oft beim Angeln der Erwachsenen am
alten Steinbruch zugeschaut.
Wie es der Zufall so will, schwamm in einer Ecke des Bruches im seichten
Gewässer ein kleiner toter Fisch. Der wurde sofort an die Nadel gespießt. Auch
der ideale Angelplatz wurde knapp am angeblich 40 m-Unterwasser-Steilhang
gefunden: Nun konnte es hockend los gehen. Es ging aber nichts los. Die Geduld
hat in diesem Alter bekanntlich enge Grenzen, zumal die ungeübte
Stillstand-Hocke langsam lästig wurde. So war ich wohl am Ende meiner Kraft als
ich plötzlich diesen groooßen Hecht gewahrte. Bei beiden
spannten sich die Muskeln und Sinne bis zum Äußersten, so dass es fast synchron
zur Entlastung kam. Der Hecht schnellte vor und schnappte zu, während ich die
Angel nach oben riss und ... noch etwas anderes zerrissen ist. Diesen groben
Fehler habe ich später nicht mehr gemacht. Mein Hecht wird dieses Manöver
vermutlich auch nicht wiederholt haben, denn erstens war sein Zugewinn
vermutlich verdorben und zweitens steckte da noch etwas Spitzes in seinem
Frischfleisch. Er wird wohl elend gestorben sein, und sein Geist hat sich an
mir gerächt.
Denn die Zeit verging.
Wieder fand die Szene im 12-Häuser-Bruch statt. Diesmal war ich anfangs nur
aufmerksamer Zuschauer, denn ein polnischer Profiangler faszinierte mich mit
seiner Geschäftigkeit. Bei ihm ging es um kapitale Hechte, das war klar, denn
an seiner langen Angelschnur hing ein blinkendes Blechteil und dieses wurde
quer und flach durch einen möglichst großen Bruchteil der Wasserfläche gezogen.
Dazu ließ der Pole den Köder vor meinem Standort ins Wasser fallen, um dann so
schnell wie es in dem Gebirge ging - die Schnur möglichst spannungsfrei
abrollend - ein größeres Stück rundum über die Felsklippen zu klettern und
gegenüber ein etwa 4 m hoch liegendes Steinpodest zu erreichen.
Selbstverständlich schleppte er das Ende der Angelschnur, das zudem auch noch
immer tiefer sank, indessen trotzdem ziemlich weit zu sich hin. So war es
seiner großen Geschicklichkeit überlassen, durch schnelles Aufrollen - er
drehte wie ein Wilder an der Kurbel - die vorschriftsmäßige geringe Tiefe des
Blinkers zu erreichen, denn auch der feuchtschwere Faden löste sich nur
zögerlich von der Wasseroberfläche. So blieb dem Hecht zu wenig Zeit, den Köder
überhaupt erst einmal wahr zu nehmen. Immerhin, wenigstens in einem Fall
zischte ein kräftiges Exemplar noch hinterher (und klatschte glücklich nur an
die Felswand), als der falsche Fisch gerade vom Wasser abhob. Nun ward Petri
erst recht vom Ehrgeiz gepackt und suchte sein Heil ... ja, ausgerechnet bei
mir. Ich hatte mich am steilen Ufer in rund 1 m Höhe über dem Wasser zu
postieren und sollte, rückwärtig zum Angler stehend, mit der rechten Hand die
Leine etwa 20 cm über dem Köder fassen, während mein Zaubermeister jetzt
gelassen rechts herum den halben Bruch umrunden konnte. Vereinbarungsgemäß war
auf ein Rufzeichen die Schnur in Richtung Wasser zu werfen.
Wir beide, ich und der Angler, nahmen uns keine Zeit zur Übung, sondern ließen
es sogleich auf den ersten Versuch ankommen. Leider hing mein Daumen schon am
Haken, bevor sein Ruf mein Ohr erreichte. In diesem Moment war es allerdings
noch wichtiger, dass meine nicht vereinbarte infernalische Antwort schnell sein
Ohr erreichte und richtig interpretiert wurde, bevor sich die Angelschnur
vollständig spannte. Sonst wäre ich der Köder geworden. Wenigstens dieser
zweite Abschnitt ist uns beiden irgendwie gelungen. Den dritten Teil der
Operation habe ich dagegen ziemlich schlecht in Erinnerung. Es dauerte erst
einmal ewig, bis die erste Hilfe des Partners ankam. Die Zeit habe ich wohl
mehr im Schockzustand überstanden. Dann ging es freilich ans Eingemachte. Der
Haken mit Widerhaken war für Walfische ausgelegt, so schien es mir zumindest,
als ich der Bescherung durch reichlich Tränenwasser hindurch erst richtig
gewahr wurde. Mein Angelfreund entpuppte sich dann allerdings als wirklicher Heilpetri, denn bevor ich es fassen konnte, hatte er die
Hakenkollektion aus meinem Daumenfleisch schon heraus gezaubert. Seither bin
ich davon überzeugt, dass Fische an Haken von echten Petrijüngern nicht leiden
müssen. Die Erklärung für den Misserfolg unserer eigentlichen Mission am
Zwölf-Häuser-Bruch zu Hussinetz habe ich vielleicht
erst durch mein Physikstudium gewonnen: Seilwellen pflanzen sich schneller fort
als Schallwellen in der Luft.
Ein Salzhering als Glücksbringer
Die Vorliebe unserer Mama für Salzheringe war uns, meinem Bruder und mir, sehr
wohl seit langem bekannt. Auch waren uns Geburtstage und Weihnachten stets
willkommen, um Geschenke zu bekommen oder auch zu machen. Gleich nach dem Krieg
war jedoch an Salzheringe überhaupt nicht zu denken. Die vorangestellten
Episoden belegen ja unser heldenmütiges Bemühen, wenigstens an regionale
Süßwasserprodukte heran zu kommen. Ging es ums Essen, da hielt sich Mama jedoch
aus verschiedenen Gründen immer weit zurück. Sie war schon glücklich, wenn wir
Kinder etwas zu beißen hatten, denn das Schlesische Himmelreich war
wirklich weit da droben, hinter den Wolken, verweht in Pulverdämpfen.
Es dürften dann - wohl erst zu Weihnachten des Jahres 1948 - polnische Hochseefischer
gewesen sein, die es uns beiden Söhnen möglich machte, extra Angespartes in
einen Salzhering zu verwandeln, um unserer lieben Mutter eine der schönsten
Weihnachtsstunden zu bereiten. Wir genossen das, und vor allem die Vorfreude,
voller Stolz.
Vom
Schicksal „meiner“ kleinen Vierbeiner
Die Hasen-Hatz
In den Wochen meiner besonders belebten Früherinnerung, auf die ich an anderer
Stelle eingehe, taucht keiner der kleineren Vierbeiner während unserer Flucht
vor den Russen auf, obgleich sie uns doch ganz bestimmt auch in dieser Zeit und
in der dörflichen Umgebung der Glatzer Auffanggegend
irgendwie über den Weg gelaufen sein müssen. Doch in unserem Hussinetz-Friedrichstein-Gesiniec hat es sie
selbstverständlich alle gegeben, die Hunde, Katzen, Karnickel und so. Auch gab
es einen Bestand wilder Tiere, der für mich zwar lange im Dunkel blieb, doch
der ebensolche Wald war nicht weit, und ein ausgesprochen typisches
Charakteristikum sind ja gerade die großen Wiesen- und Feldflächen innerhalb
der Dorflage. Nach unserem Wiederein- und dem Zuzug der Polen im Heimatdorf
wurden freilich diese armen Viechter schnell
nicht nur dezimiert, sondern völlig ausgerottet. Sie wurden ganz einfach
aufgegessen.
Ich schwöre allerdings, dass wir keinen Hund und keine Katze verspeist
haben, was jedoch nicht für die gesamte europäische Dorfgemeinschaft zutraf.
Trotzdem drängten diese und weitere solcher vierbeiniger Spezies bald wieder
ins Bewusstsein zurück. Insbesondere taten dies gewisse wilde Tiere, die
naturgemäß schwer zu fangen waren. Ich habe keine Ahnung, inwieweit der
Gebrauch von Schusswaffen verboten war oder ob hier ein lokal-internationaler
Konsens herrschte, weil jeder im Ort inzwischen Explosionen hasste wie die
Pest. Das war durchaus nicht überall der Fall. Ab dem Jahr 1950, da ich nach
der Vertreibung im sächsischen Weinböhla landete, konnte ich zum Beispiel noch
die entsprechende Praxis der Russen aus der Meißner Garnison beobachten: Die
ballerten in der Aue vor meinen Augen mit der Maschinenpistole auf die wenigen
verbliebenen Hasen!
Auch in Gesiniec gab es Jahre zuvor wieder Feldhasen.
Doch nun greife man mal diese Schnellfüßer mit bloßen
Händen! Und trotzdem, unglaublich, ich habe dieses spektakuläre Unterfangen
zumindest im Ansatz beobachtet, nämlich wie ein Mann genau dies versuchte. Es
war ein Tag, wie viele, und ich strebte dösend zwischen den Grundstücken von Bruske/Utikal (171/Aue) und Pultar (172/Aue) im Ortsteil Aue von Hussinetz
der Stadt Strehlen zu. Vielleicht wollte ich zum Friseur in der Altstadt. Links
und rechts zogen sich Gärten mit durchgängigen Maschendrahtzäunen dahin.
Plötzlich stürmte ein Hase im Garten rechter Hand direkt auf mich zu. Ich
wette, er sah weder mich, noch - oder gleich gar nicht - den Maschendraht.
Wenige Meter dahinter spurtete nämlich ein Pole, und der hatte es direkt auf
den Meister Lampe abgesehen!! Das zutiefst fremdartige Duo fesselte mich
derart, dass meine Beine schlagartig erstarrten. So konnten beide einen sonst
notwendigen horizontalen Haken um mich herum gerade mal noch vermeiden. Umso
entscheidender wurden demgegenüber zwei unvermeidlich aufeinander folgende
vertikale Sprünge, falls die Richtung beibehalten werden sollte. Der Haase
entdeckte das Hindernis in letzter Sekunde, also musste er schon wegen der Trägheit
linientreu bleiben. Seine beiden Kolossalsätze überstiegen dann eindeutig mein
Vorstellungsvermögen und haben sich trotzdem tief in mein Gehirn gebrannt. Auch
die weitere Abfolge der sagenhaften Ereignisse sehe ich präzise, denn der Pole
landete nach seinem ersten Sprung in dem Augenblick auf der Strasse als der
Hase bei seinem zweiten gerade den Flugscheitel über dem nächsten Zaun
passierte. Die Breite des Weges schätze ich nachträglich zu höchstens 5 m, so
dass man sich im wahrsten Sinne des Wortes auf den Fersen war. Wie das Rennen
ausging, weiß ich nicht, denn ich stand noch lange mit offenem Mund da und
schaute in die Richtung, in der dieser duale Spuk schließlich zwischen den
Bäumen verschwand.
Nachwort: Falls jemand hinterfragt, wieso in diesem Zeitlupenfilm ein Pole
vorkommt, so kann ich zumindest teilweise aufklären. Man konnte als deutscher
Bürger von Gesiniec sehr bald auf Anhieb einen Polen
von einem Deutschen unterscheiden. Warum? Keine Ahnung, es war halt so,
wahrscheinlich auch im umgekehrten Verhältnis.
Als Hase zwischen zwei Hunden
Ein anderer Pole entdeckte eine ungleich effektivere Methode. Er schaffte sich
zwei Hunde an und richtete sie zur kollektiven Hatz auf Feldhasen ab. Man
konnte ihn und seine zwei gelehrigen (und vor allem hungrigen) Tiere öfters in
den benachbarten Feldfluren am Windmühlenberg beobachten. Mich beeindruckte die
intelligente Taktik der Hunde. Einer rannte hinterher, der andere fabrizierte
im Gelände Bögen, um das Langohr in die Zange zu nehmen. Trotzdem gingen die
Häscher regelmäßig leer aus und gaben schließlich auf. Das galt aber nicht für
den Polen, der immer mal aufs neue die Hunde aufhetzte. Immerhin gelang es
diesen zunehmend besser, die seltenen Hasen überhaupt erst einmal aufzuspüren.
Für mich wurde das Zuschauen trotzdem langweilig. Man wünschte sich als
Hänschen mehr Aktion. Ich brachte es schließlich fertig, beim Spielen nicht
gleich die Ruinen in der Kauba-Reihe zu verlassen,
wenn ich das vertraute Hundegebell hörte.
An einem Durchschnittstag - die Hunde waren drüben im Feld verschiedentlich zu
hören - ging ich einen lang gestreckten Pfad zwischen zwei Spielplätzen
benachbarter Ruinen dahin. Links und rechts standen Gräser hoch und Sträucher
dicht, denn die Natur gewann inmitten der einstigen Siedlungsstätten wieder die
Oberhand. Plötzlich hörte ich ein Trommeln und Keuchen hinter mir und trat
unwillkürlich zur Seite. Da stiebte ein Hase vorbei, dem im Abstand von 1 m ein
Hund folgte. Letzterer machte den Eindruck, dass er trotz des Wahnsinnstempos
der „Spur“ nicht nahe liegend rein optisch, sondern standestypisch mit der Nase
hart am Boden, also geruchsmäßig folgte.
Sooo lang ging nun der Pfad auch nicht gerade aus. Da
vorn gab es nämlich eine völlig unübersichtliche Kurve, was aber momentan
offenbar nur ich wusste. Mein Denken war jetzt aber ohnehin abgeschaltet und
hätte zudem die folgende Karambolage mit tödlichem Ausgang zu keiner Zeit
beeinflussen können. Ich ahnte ja auch nichts vom jenseitigen Gegenverkehr. Der
fand aber zunächst einmal statt in Form des zweiten Hundes! Es bleibt freilich
dessen Geheimnis, wie er den verschlungenen Weg des gehetzten Hasen voraus
gesehen hatte, der sicher nur in arger Bedrängnis mein für ihn fremdartiges
Spielfeld betrat.
Für die einen eingangs und den anderen ausgangs der Kurve also, kaum 5 m
voraus, kam es zum Dreierstoß. Beide Hunde reagierten auf Geruchswirbel oder so
überhaupt nicht, sondern stießen ungebremst und gleichzeitig frontal drauf.
Worauf? Auf des Hasen Bauch bzw. Rücken! Der stand nämlich in diesem Augeblick
in der Luft. Insofern muss es für die beiden etwa gleich großen Hunde ziemlich
schmerzhaft gewesen sein, denn die Köpfe stießen annähernd zentral zu.
Dazwischen war also nur der untere Balg des dritten Tieres, und was hat dieses
dürre Teil schon mit einem Airbag zu tun. Der Hase hatte doch tatsächlich den
Ernst der Lage noch erkannt und versuchte - wohin denn sonst bei der
allgemeinen Enge rundum? - senkrecht (!) nach oben zu entkommen. Das misslang
allerdings gründlich, wie beschrieben.
Es ist auf Anhieb verständlich, dass die verbrauchte, beträchtliche
Stossenergie die Lebensgeister des fliegenden Vierbeiners auf der Stelle
zumindest zeitweise außer Betrieb setzte. Die vereinigten elastischen Kräfte
der deformierten Leiber trieben nun zudem die Hunde jaulend ein Stück
auseinander, so dass Meister Lampe wie ein nasser Lappen zwischen ihre
Schnauzen fiel. Also hatten die Häscher genug Zeit, um die Übersicht zu
gewinnen. Die Falle schnappte zu, und zwar ein Scharnier im Genick, das andere
am Hinterlauf. Wie es sich freilich heraus stellte, war dieser Eifer völlig
überflüssig, denn die Beute war längst tot: Rückratfraktur.
Und ich hielt immer noch inne, denn die scharfen Bilder brauchten Zeit zur
Abspeicherung in den grauen Zellen. So, und jetzt spie die Dschungel-Kurve auch
noch den eiligen Polen aus, der sofort heftig über das Knäuel der ineinander
verkeilten Hasen und Hunde stolperte. Das wiederum raubte ihm immerhin die
kinetische Energie, so dass er mich wenigstens am Leben ließ. Daher konnte ich,
der ich als Einziger den Vorgang aus nächster Nähe minutiös beobachtet habe,
über diese Alternative zur klassischen Hasenjagd berichten.
Bei uns zu Hause wurden die Kaninchen übrigens - als es sie wieder gab - ganz
anders erlegt: Die linke Hand hielt das zappelnde Opfer an den Hinterläufen,
während die Rechte vehement einen Knüppel führte, und zwar genau hinter die
Ohren. Auch ich Knirps war eines Tages zu diesem Handwerk berechtigt.
Schlesischer Aberglaube und ein Hundeschreck
In nächster Umgebung unseres Hauses gab es für mich drei bemerkenswerte
landwirtschaftliche Güter. Die verhältnismäßig kleinen Flächen erinnerten noch
an die Gründerzeit, waren doch sämtliche Siedler der ersten Stunde BauernL.
Die betreffenden Güter gehörten wie wir zur Kauba-Reihe.
Ich möchte zunächst aus Hänschens Perspektive zugehörige Personen, die mir
irgendwie nahe standen, wie folgt kurz charakterisieren: Fritz Wittwar (36), mein Ziel, wenn ich abends Hunger hatte;
Helmut Tscherny (34), mein bester Freund bis zu
unserer Vertreibung; Traugot Matitschka
(35), der Huchnja für uns Kinder. Während es
sich bei Wittwar´s zu meinem Glück noch immer um ein
reines Bauerngut handelte, stand wohl vor dem Krieg inzwischen bei Tscherny´s die Stellmacherei im Vordergrund, doch erlebte ich
nach dem Krieg auch dort nur landwirtschaftliche Aktivitäten. Der Huchnja war wohl schon zu meiner Zeit zu alt, um
seinen Acker zu bestellen. Auf jeden Fall waren alle drei Güter für meinen
Freund Helmut und mich die Bereiche, die wir bis in den letzten Winkel kannten,
oft gemeinsam nutzten und ... leidlich verunsicherten. Die große Stube bei Tscherny´s entwickelte sich jedoch auch zu einer Art von
kulturellem Zentrum, wo freilich der Aberglaube reichlich Nahrung fand.
Immerhin, diese Treffen ersetzten für mich die Märchenwelt, so lange ich noch
nicht lesen konnte, denn ans Vorlesen zu Hause war zu dieser Zeit einfach nicht
zu denken.
In der Mitte stand bei Tscherny´s ein Kanonenofen.
Man versammelte sich abends und scharte sich rund um diesen. Wenn der dann nach
reichlicher Fütterung wie ein Hochofen glühte, konnte man im romantischen
Rotlicht, also ohne sonstige Beleuchtung, eine seltsame Staffelung von
kreisförmig angeordneten Leibern beobachten. Den Innenkreis bildeten Hunde, die
sich, in Seitenlage ausgestreckt, von der heißen Sonne rösten ließen. Dann
hockten ringsum im Halbdunkel wohliger Strahlungshitze erwartungsvoll die
kleineren Kinder, während sich hinter uns die Jugend und Erwachsene auf
Schemeln und Stühlen platzierten. Aus verschiedenen Richtungen von hinten
ertönten dann die unendlichen Geschichten aus dem Märchenland Schlesien. Sie
wurden umso gehaltvoller und phantastischer, je später der Abend. Jedenfalls
empfand ich das so, und ich wurde im steten Wechsel von der Angst gepackt, vom
Frost geschüttelt oder es standen mir die Haare zu Berge. So ging es bestimmt
auch den anderen Kindern und ... den Erwachsenen, denn der Aberglaube ging seit
Jahrhunderten um im Dorf, und mit ihm ... der Apotheker, die Poltergeister und
der Rübezahl. Ach, wo spukte es nicht überall in Hussinetz
und Umgebung! Besonders betraf es natürlich das entlegene Dorfviertel
Helle, das ungerechterweise meist in dieser Runde in tschechisch als Peklo bezeichnet worden ist, was ja nun wirklich
„Hölle“ heißt. Der Teufel fegte ohnehin überall herum, denn er besaß zudem im
Teufelsberg bei Mehlteuer seine Brutstätte. Unweit davon, in Jagen, gediehen
die Legenden von der Kreuzeiche, die tatsächlich existierte und die mit ihren
zwei kreuzweis ineinander gewachsenen Ästen
stets auf´s neue die Phantasie beflügelte. (Meine
offenbar besonders, denn so etwas wurde für mich viel, viel später zum
Forschungsgegenstand.) Das alles fiel ohnehin auf fruchtbaren Boden, denn das
immer noch wabernde Glaubensbekenntnis der nicht minder legendären, hussitischen
Böhmischen Brüder und Ahnen des Unternehmens Hussinetz
schloss erstens den Teufel nicht aus und ließ zweitens die Möglichkeit zu, dass
das eine oder andere Phänomen vielleicht doch der christlichen Wahrheit
entspricht. Ausgespart blieb nicht wirklich irgend einer unserer Lebensräume,
bis hin zu den Zobtenbergen im Norden und sogar bis
weit ins Riesengebirge im Süden. Dazwischen, ganz in der Nähe, thronte der
Rummelsberg, der für die böhmischen und deutschen Gläubigen nicht nur
traditionell mit seinem Missions-Volksfest als überregionaler „evangelischer
(!) Wallfahrtsort“L fungierte,
sondern auch die tollsten Schaudergeschichten reichlich bediente.
Zur Entspannung nahm man sich natürlich auch mal bestimmte Personen auf´s Korn, so eben auch den armen Huchnja.
Weil er einen Sprachfehler zeitlebens mit sich herum schleppte, musste der in
dieser Runde stets abwesende Nachbar leiden. Er habe das Schloss mit Gewalt
erbrochen war eine der typischen nasalen Nachäffungen, die ich mir nur
inhaltlich gemerkt habe. So ein Blödsinn! Nur, das bescherte für uns Kinder
automatisch eine tragische Spottfigur.
Dann ging es wieder an´s Eingemachte. Der hintere
Ziegenberg bzw. dessen als Apothekerberg verpönte Warze bei Mondlicht kam nun,
wie so oft, ins Spiel. Bei Nacht war hier die Strasse nach Eichwald oder von
Steinkirche praktisch unpassierbar, denn wer wollte sich schon mit dem Geist
des verunglückten, gottlosen Apothekers anlegen? Es reichten ja schon die
örtlichen Ackergeister. Sie kündigten sich zwar mit Lichtsignalen an, doch war
man ihnen hoffnungslos ausgeliefert. Wir Kleinkinder nahmen das sehr ernst, und
keine zehn Pferde hätten uns zur fraglichen Stunde dort vorbei ziehen können.
Die Vorstellung wurde selbstverständlich keinesfalls entschärft, wenn es dann
gelegentlich hieß, die blinkende Lichtquelle sei nur die blanke Schar eines im
Feld abgestellten Pfluges gewesen.
Genau auf dem lausigen Höhepunkt einer solchen Gespensterstory geschah es dann.
Jemand legte - sicher nur, um der eigenen Erregung Herr zu werden - im Ofen
Holz nach, so dass die Kanone zu schmelzen drohte. Beim Rückzug trat der Depp
einem der Hunde auf´s Bein. Oh je! Dessen
jämmerlicher Aufschrei wurde nun von allen Anwesenden, auch von den anderen
Hunden, wie das endgültige Öffnen der Hölle verstanden. Alles sprang auf und
schrie und bellte gar fürchterlich durcheinander. Vielleicht geriet auch noch
jemand in brenzliche Tuchfühlung zur Schmelze;
jedenfalls war jetzt wirklich der Teufel los. Spätestens dieses chaotische
Gebaren war nun der endgültige Beweis:
Vom Aberglauben waren alle Hussinetzer
befallen!
Die Abrichtung des Hündchens beim Kriegerdenkmal
Der 1. Weltkrieg hatte auch zahlreiche Opfer aus Hussinetz
gefordert. Ihnen stellte man, wie überall in Deutschland ein Denkmal auf. Bei
meinem ersten Heimat-Besuch in der „Neuzeit“ lag es zerbrochen in Teilen und
völlig verwahrlost herum. Man muss es daher hoch anerkennen, dass auf
Initiative polnischer (!) Bürger die vollständige Restaurierung stattgefunden
hat und im Jahr 2003 die Wiederaufstellung am ursprünglichen Standort erfolgte.
So kann man nun wieder in deutlichen goldenen Lettern auch die zahlreichen
Namen meiner betroffenen Verwandten erkennen.
Diesem Platz gegenüber befand sich damals das Duschek-Anwesen
(192/Aue) mit seinem ausgedehnten Garten. Alle, die aus unserer Gegend in das
Aue-Viertel strebten, mussten dort vorbei. Man wurde hier stets auf ziemlich
langer Strecke von einem kleinen Spitz begleitend angekläfft. Das ging
natürlich besonders den größeren Jungen´s auf die
Nerven, und die fanden die perfekte Lösung des Problems: Man stieg über den
Zaun und schnappte sich den Balg. Es kam nämlich jemand auf die glänzende Idee,
seine Nase auf Weißglut zu reiben. Das muss dann furchtbar weh getan haben, und
die entsprechende Prozedur hat sich das Hündchen für alle Zeit gemerkt. Man
brauchte nur - das galt auch und vor allem für uns kleine Buben - beim
Vorbeizug die entsprechende Handhabe nachzubilden. Klar, der Hund kam nach
einer gewissen Karenzzeit zunächst wieder lauthals zum Zaun gestürzt. Doch nun
wurde nur mit der linken Hand der Schnauzengriff geformt und mit der flachen
Rechten darauf kreisend gerieben, was vom Bello
sofort verstanden wurde und bei ihm sichtlich Phantomschmerzen weckte. Er zog
spontan den Schwanz ein und rannte winselnd davon. Diese makabre Abrichtung
wurde von uns selbstverständlich bis an sein Ende immer wieder fortgeschrieben.
Nun hat auch er ein Denkmal.
Kaninchen und Meerschweinchen in den Sack
Die nahrhafte Praxis des Hasenbratens (obwohl es nur um Karnickel ging)
leitete bei uns zu Hause gezielt wieder zu besseren Mahlzeiten über. Doch sie
dauerte leider nicht ewig. Sie währte im Grunde nur so lange, bis alle Boxen in
unserem großen Karnickel-Stall mühsam besetzt waren. Das muss man wohl
heimlich beobachtet haben.
Die Aufzucht hatte ihre Zeit verbraucht, denn sie musste buchstäblich aus dem
Nichts erfolgen. Motor war - wie immer - unsere überaus rührige Mama. (Schon
der Bericht von Vilem JirmanL rückte
bekanntlich diese Eigenschaften der kleinen Frau ins Licht, siehe auch
Abschnitt „Vilem, der Beschützer“.) Nach Katze Minka gelangte jetzt zudem ein
weiterer Vierbeiner in meinen Besitz: Ein Meerschweinchen. Das war aber
planmäßig nicht zum Essen da, sondern wie einst das Kätzchen ... zum Schmusen.
Eines Nachts störten seltsame Geräusche den Schlaf. Bald versammelten sich alle
in meinem Bett, das unter dem hofseitigen Fenster stand, um ängstlich durch die
Gardine in Richtung Kaninchenstall zu lugen, denn genau dort spielte sich eine
schreckliche Szene im Mondlicht ab. Ein Mann, den wir in der Auswertung des
fiesen Diebstahls unabhängig voneinander als unbekannten Polen identifizierten,
machte sich dort zu schaffen, während man häufig das heftige Pochen der
Hinterläufe hörte, mit dem Karnickel bekanntlich helle Aufregung verraten. Der
Mensch schleppte vor unseren entsetzten Augen ein Tier nach dem anderen vorbei,
um an der Hausecke im Obstgarten zu verschwinden. Er kam aber bald wieder und
bediente sich erneut.
Zuletzt hob er einen Sack auf, das Schwein!
Natürlich wussten wir bald, was hier ablief, und meinem Bruder und mir war zum
Schreien zumute. Doch Mama hatte die Chancen und Gefahren schnell erkannt.
„Pst! Pst!“, und wir hatten verstanden.
Am frühen Morgen fanden wir sämtliche Ställe offen und leer. Der Räuber hatte
sogar mein Meerschweinchen mit genommen und sicher ebenfalls getötet, um sein
Fleisch zu verwerten. Diese Arbeitsweise verriet uns ein großer Blutfleck
gleich nebenan im Garten. Spätestens mit diesem Eindruck wurde meine Erfahrung
im Steigerungssinne relativiert, die vor allem wir kleinen Kinder nach dem
Krieg eine Zeit lang vor allem in Strehlen machten. Dort beschimpften und
drangsalierten uns nämlich gern ältere polnische Jungen mit folgendem Satz: Niemieckie swini!!
(Deutsche Schweine!!). Mit Schimpf und Schande sollten ausgerechnet wir, die
wir nicht einmal die echte Pimpfehre genossen, für die Fehler unserer Eltern
büßen. Die erste Gegenmaßnahme war - entsprechend Beschluss im Rat der Mütter -
dass ich zeitweise meine Muttersprache verlernen musste. Die zweite
Entscheidung fällte ich selbst: Du lernst die polnische Sprache! Darauf und auf
die Folgen davon werde ich noch später zurück kommen müssen.
Hasen-Glück und Tombola-Pech
Mama gab schockiert die Karnickel-Zucht auf, so dass die Ställe fortan
ungenutzt blieben. Meine Zuneigung zu diesen Tieren erwies sich jedoch als
Erhaltungsgröße. Zumindest esse ich auch heute noch ihr Fleisch gern, während -
zu meiner Überraschung - viele Menschen das ganz und gar nicht mögen.
Strehlen und Umgebung erlebten nicht nur weitere Frühlinge, sondern das Leben
selbst erblühte zusehendst. Der Sportplatz in der
Altstadt wurde aktiviert und bekam sogar eine überdachte Tribüne. Dass dort
Fußball gespielt wurde, habe ich bestens in Erinnerung. Man übte auf dem
Nebenplatz, ich machte als interessierter Zuschauer in Gedanken mit (denn ich
sollte doch noch als Opa aktiv Fußball spielen). Leider verwechselte mich
urplötzlich einer der auffälligsten polnischen Akteure mit dem Tor (oder ich
hatte ihn falsch verstanden). Jedenfalls traf mich sein Ball mit voller Wucht
aus nächster Nähe am Backe. Boze mui! (Mein Gott!), hätte Mama gerufen. Ich selbst ging
erst einmal ein Stück in die Luft, dann zu Boden, um mich schließlich in
begründete Weinkrämpfe zu verwickeln. Der Abdruck des Balles war noch lange zu
sehen, weshalb ich Tätowierungen zeitlebens als unsozial betrachte und strikt
ablehne.
Zum Weinen war mir auch zumute als ich einst in der Tombola auf dem Sportplatz
das Große Los gezogen hatte. Polnische Folklore, Budenzauber und Loskisten
begeisterten selbstverständlich auch uns landsmännisch
Untergetauchte. Die Gewinne waren zahlreich auf den Sitzreihen der Tribüne
ausgestellt und - wie ich meine - durchweg viel praktischer als heutige
einschlägige Auslagen. Das Gedränge war riesengroß. Ich, allein, zog ein Los
mit letzter finanzieller Kraft und ... gewann. Irgendwer hinter der Balustrade
nahm mir das Papier ab und ließ die Glocke gellend schwingen. Es musste
mindestens ein Hauptgewinn sein! Dann kam eine Frau und schleppte am Genick,
zappelnd, ... einen großen lebendigen Karnickel! Ich stand mal wieder völlig entgeistert da. Als sie den Gewinner und seine wehrlose
Einsamkeit im Getümmel wirklich schnallte, machte die Hexe kehrt ... ... ...
... ... und brachte mir als Preis eine Schale (!) aus Glas. Nun glich ich eher
einem begossenen Pudel. Das war doch erneut Karnickel-Diebstahl! (Selbst die
schönsten polnischen Frauen waren mir seither nie richtig sympathisch.) Den für
mich völlig nutzlosen „Gewinn“ habe ich nachher meiner Mama halb voll mit
Tränen weiter gereicht.
Ein Fuchsbalg für 1.000 Zloty
Bei so viel Elend musste sich ja ein Feindbild entwickeln, was die vierbeinigen
Langohren betraf. Sie konnten zwar wahrhaftig nichts dafür, doch ist die
Philosophie eines kleinen Jungen, der langsam zum Bengel heran wächst, eine
sehr einfache: Mit gefangen, mit gehangen! So hatte ich als Neunjähriger mit
diesen Tieren kein Mitleid mehr, als mir mein Vetter im sächsischen Weinböhla
erzählte, dass man seinerzeit ganze Kaninchen-Baue ausgegraben hätte, um an das
Fleisch heran zu kommen. Ich bedauerte vielmehr, in Schlesien nicht selbst auf
diese Idee gekommen zu sein. Nun schweift die Erinnerung wieder in die Zeit
zurück, da mein Cousin noch im schlesischen Geppersdorf
wohnte, wo seine Eltern ein Haus besaßen. Mama besuchte nach dem Krieg ihre
Schwester dort in gewissen zeitlichen Abständen, obgleich der Weg lang und
beschwerlich war. Früher konnte man bei dieser Gelegenheit wenigstens noch bei
Verwandten im romantischen Eichwalder Gasthof „Zur grünen Eiche“
Zwischenstation machen. Die Deutschen hatten zwar nach dem Bericht von Alfred KilianL die Fernstrasse von Strehlen über
Friedrichstein nach Geppersdorf geplant, jedoch nicht
mehr vollenden können. In Eichwald war jedenfalls Schluss, und der Rest wurde -
wie das Endstück der Autobahn von Dresden nach Breslau - ein Opfer des Krieges.
Man musste sich von dort aus durch einen lehmsandigen Waldweg quälen, der zudem
am buckligen Lehm-Berg entlang führte.
Noch in „Friedenszeiten“ benutzte Mama gern das Fahrrad, um mit uns zwei Buben
das Ziel in etwa 6 km Entfernung überhaupt und zudem schneller zu erreichen.
Mein Bruder saß auf dem Gepäckträger hinten und ich vorn im Fahrradkorb. Man
kann sich also lebhaft vorstellen, dass die Strecke mit mir zu Fuß kaum zu
machen gewesen wäre. Auch die Zeit zuvor war tabu, denn für den Kinderwagen
hätte man den Vater gebraucht. Der war aber in Russland, und schob allenfalls
Sani-Lastwagen, die sich in schlammigen Strassen beim Vormarsch dort öfters
fest gefahren hatten (so berichtete er jedenfalls viele Jahre später, siehe
Abschnitt „Pappa, der Krieger“). Mamma soll das Unterfangen zu Dritt auf einem
Drahtesel in der Regel mit Bravour gemeistert haben. Doch einmal - und das
gehört zu meinen allerfrühesten Eindrücken, die haften geblieben sind - ging es
mit uns im Lehmberg-Wald völlig schief. Das Fahrrad verhedderte sich, und alle
landeten mehr oder weniger unsanft im Dreck. Diese Geschichte wurde nach
dem Krieg zu meinem Ärger gern bei Tscherny´s (34/Kauba-Reihe) in der Runde am heißen Kanonenofen
ausgeschlachtet, doch darauf bin ich ja gesondert eingegangen.
Es kam aber die Zeit nach dem Krieg, da auch einmal mein fünf Jahre älterer
Bruder mit mir zu Fuß nach Geppersdorf pilgerte. Man
passierte dabei viele interessante Stationen. Los ging es über den Wiesenweg
(einst Teil der gegen Panzer verminten Hauptkampflinie, siehe Abschnitt „Der
Krieg in Hussinetz“) zur Teichreihe. Dann lag mal
rechter Hand der damals still gelegte Hussinetzer
Granit-Steinbruch (die Polen betreiben ihn jetzt wieder), dessen tiefes Wasser
bekanntlich nach dem Krieg zum Massengrab von Waffen, scharfer Munition, nicht
entsicherten Minen sowie ... Säcken voller Katzenbabys umfunktioniert worden
ist. Nun folgte links der Ziegen-Berg, ein Paradies für unsere Geländespiele.
Man kämpfte in zwei gegnerischen Gruppen von Jungen unterschiedlichen Alters
nach bestimmten Regeln. Entscheidend war eine Blechmarke, die mit Bindfaden am
Hosenbund befestigt war. Um diese entwickelte sich letztlich immer ein heftiger
Nahkampf, der das Verstecken und Anschleichen im weiträumigen Gelände sowie das
Überfallen und Fechten mit Holzschwertern völlig in den Schatten stellte. Wer
als erster die Marke des anderen abreißen konnte, hatte gewonnen. Männer ohne
Marke waren „tot“ und durften sich am weiteren „Kampf“ nicht mehr beteiligen.
Leider war ich einer der Kleinsten, so dass ich meistens nur Kanonenfutter
war. Immer auf der Verliererstrasse ist ein harter Job, aber auch eine
Herausforderung für später.
Wir zogen erst einmal schnell weiter, denn jetzt kreiste im Kopf der sagenhafte
Apotheker. Das erregte bei unter 10jährigen Jungen allemal haarsträubende
Gedanken, obgleich es früh am Tage war. Erst dann kam Eichwald, und man
gelangte dahinter bald wirklich in den dichten, dunklen Wald. Dabei handelte es
sich ja nun auch nicht gerade um eine Landschaft - mit dem Teufelsberg in der
Nähe - die man phantasielos durchquerte. Der Feind konnte überall sein. So
erreichten wir mehr oder weniger gestresst den anderen Gehölzrand, von wo aus
man bereits die Häuser von Geppersdorf ausmachen
konnte.
In diesem Augenblick streunte ein Fuchs durch das Blickfeld. Er entdeckte uns
ziemlich spät, so dass ihm der Schreck offenbar tief in die Glieder ging. Nun
tauchte er schnell, doch für uns gut einsehbar, in den Straßengraben und in die
Verrohrung ab, die man dort wegen des Überganges zu
einem Feldweg angebracht hatte. Der Fuchs war definitiv im Rohr! Er kam auch
nicht wieder heraus. So zogen wir also ab, nun aber mit einem spannenden Thema
im Gepäck. Und ich gebe zu, dass auch ich den Gedanken hegte, den Fuchs zu
fassen. Aber wie?
Diese Frage spielte bei unseren Gastgebern - die später ganze Karnickelnester
ausgruben - keine Rolle, denn kaum war die Geschichte erzählt, waren wir
bereits mit Verstärkung und ... mit einem Kartoffelsack unterwegs. Man wollte
vor Ort keine Zeit mit der riskanten Überprüfung verschwenden, ob denn der
Fuchs noch da sei, sondern hatte wohl sofortiges Handeln verabredet. Zeitgleich
sprangen je ein Mutiger an beiden Rohrenden in den
trockenen Graben. Dort, wo der Fuchs hinein gekrochen ist, standen nun zwei
Hosenbeine. In der richtigen Annahme, dass das Tier im engen Rohr kaum ein
Wendemanöver durchführen konnte, gähnte am anderen Ende ... die weite Öffnung
des Sackes. Das Gewebe wurde mit zwei Händen eng an den dortigen Rohrrand
gepresst. Nun die weitere Überlegung: Ein Fuchs im finsteren Rohr muss das
durch und durch schimmernde Sackgewebe als die große Freiheit wahrnehmen, wenn,
ja wenn der Teufel hinter ihm her ist. Potz Blitz, der war nun tatsächlich los,
alles schrie um die Wette, man trampelte auf den Boden, auch der mit den Hosen,
nur am Sackende herrschte Stille. So musste der schlaue Fuchs annehmen, dass
der Teufel hinter ihm ist. Und wie er das tat! Einer Furie gleich
schoss der vermeintlich Verfolgte in den Sack hinein, so dass dessen Halter
alle Mühe bekam, die Fäden zu beherrschen und vor allem zu schließen. Nun hing
er zugebunden da am starken Arm eines Menschen, während man eine Zeit lang den
Eindruck bekam, dass Fuchs und Teufel gemeinsam darin eingeschlossen sind.
Hier tut sich eine Erinnerungslücke auf. Ich weiß nicht mehr, was dann mit dem
Fuchs geschah. Jedenfalls war er - ich, in Geppersdorf
zur Besinnung gekommen - letztlich mausetot. Irgendwer muss ihn irgendwie
äußerlich völlig schadlos umgebracht haben, denn ich durfte nach dem Abziehen
sein Fell und vor allem den schönen buschigen Schwanz streicheln. Da war kein
Makel am Balg, der schließlich bei einem Polen, ich glaube in Steinkirche,
satte 1.000 (!) Zloty eingebracht haben soll.
Der Wert des polnischen Geldes war im Ansteigen. Mein allerletzter Zloty
reichte sogar für eine Henkersmahlzeit, denn ich konnte mir dafür auf dem
Bahnsteig im Abschiedsbahnhof zu Breslau eine kleine Tafel gefüllter Schokolade
kaufen. Aber da warteten wir Vertriebenen auf den Zug, der uns über die Oder
nach Deutschland zu bringen hatte. Hussinetz,
Schlesien, ade!!!
Viele Ratten und eine Mistgabel
In unserem eigenen, hölzernen Freiluft-Klo zu Hause gab es keine Ratten,
im Haus gleich gar nicht. Trotzdem wurde ich nachhaltig mit diesen Vierbeinern
konfrontiert.
Es war, wie gesagt, unter den umständehalber männerlosen Frauen mit Kindern
üblich, an gewissen Sonntagen „Kriegsrat“ zu halten. Auch wir Langer´s trafen uns dazu in einem Bauernhof, den ich nicht
mehr genau identifizieren kann. Es muss, bei Verwandten (Fleger´s?),
irgendwo am Ziegen-Berg gewesen sein. (Dort sprachen übrigens die großen Söhne,
einer alten böhmischen Tradition folgend, noch die eigene Mutter mit Ihr
an, wie ich mich erinnere.) Fast alle hier Versammelten wussten noch nicht, wo
Ehemänner, Väter, Brüder, Söhne im Krieg abgeblieben sind. So füllten die
tüchtigen Frauen ohne Zweifel mit großer Umsicht eine gewaltige Lücke. Das werden
alle bestätigen, die damals die Flucht, die Front, die polnische Landnahme
und/oder die Vertreibung erlebt haben. Ich erlaube mir daher noch eine weitere
allgemeine Bemerkung: Es gibt Kriegermahnmale und Soldatenfriedhöfe, es gibt
jüdische Erinnerungsstätten und wieder aufgebaute Frauenkirchen, an die Folgen
des Luftkrieges wird regelmäßig erinnert und man entschädigte und machte wieder
gut, kurzum, es wurde und wird viel getan, um das Unrecht eines Weltkrieges
auszugleichen bzw. unvergessen zu machen. Doch wo ist das Denkmal für die
Frauen und Mütter, die die Suppe im heimatlichen Hinterland auslöffeln mussten?
In den ersten Tagen nach dem Krieg kam es verständlicherweise auch im Dorf, wie
in Strehlen, zur teilweise sehr heftigen Konfrontation mit den Polen. Wenn Du
es nicht selbst erlebt hast, kannst Du es Dir kaum vorstellen, was es heißt,
wenn eines Tages ein Fremder kommt und Dein Eigentum einfach so mehr oder
weniger vollständig beansprucht! Man nahm - erklärend spürbar - keine
Verhandlungen zwischen Verwaltungen oder so wahr. Die Russen waren im November
1945 kurzerhand abgezogen. Es gab jetzt in Gesiniec
nur noch das polnische Recht des Stärkeren. (Als Sieger kann man zumindest aus
nachträglicher Sicht die schlesischen Polen freilich nicht bezeichnen, waren
sie doch selbst teilweise Verlierer ihrer angestammten
Heimat.) Die deutschen Frauen mussten sich also untereinander austauschen, um
die neue Rangordnung einigermaßen unbeschadet zu ertragen und sich
Verhaltensregeln zu erarbeiten. Eine der Folgemaßnahmen betraf - wie gesagt -
auch mich, denn ich sollte ab sofort die deutsche Sprache vergessen. Ich war
echt wütend, weil ich bis dahin das Polnische hasste und dann lieber noch
tschechisch sprach. Ja, auf dieses Sprachgewirr in meinem Knabenkopf muss ich
unbedingt später noch eingehen.
Mein Zorn steigerte sich zunächst einmal, weil nun auch noch vor Ort die Ratten
ins Spiel kamen. Wie bei uns musste man auf´s Klo
diagonal über den Hof. Allerdings handelte es sich hier im Gutshof um eine
deutlich größere Entfernung. Man war daher dort drüben mit jeglichen
einschlägigen Geschäften vollkommen auf sich allein gestellt. Die
Grundkonstruktion der Lokalität war ähnlich wie zu Hause, nur einige
Abmessungen unterschieden sich beträchtlich in Richtung größer. Ich meine da
nicht unbedingt den überdimensionalen Lochdurchmesser eines Bauernbalkens (auch
im Verhältnis zu meiner damaligen Rückseite), der mir beim Sitzen Angst machte.
Zum Festklammern gab es nämlich kaum Greifbares für meine kurzen Arme, und ich
hatte ständig Sorge, hinten durch zu fallen. Man saß krampfhaft und
asymmetrisch, was ja an dieser Stelle biologisch völlig widersinnig sein
musste.
Nein, das Grundproblem war ein anderes. Während bei uns eine kleine,
überschaubare Grube als Auffanglager diente, war hier ein riesiger Misthaufen
angeschlossen, den reichlich Jauche dekorierte. Und das hatte Folgen für das
üppige Leben darin. Noch einmal, bei uns wurde die Grube oft mit ein paar
Kübeltransporten völlig entleert. Hier herrschten aber völlig andere
Verhältnisse, woran vor allem ... der Krieg schuld war.
Der Bauer fehlte, Kühe, Pferde, Schweine gab es nicht mehr, die Felder waren
vermint, also blieb der Mist auf Jahre so, wie er am Tag der Einberufung
bestand. Das wiederum führte zur Entwicklung eines eigenständigen, ungestörten
Ökosystems, in dem schließlich die Ratten dominierten. Man konnte sie wie mit
einer Großbild-Lochkamera beobachten, denn als Wohnung, Kreissaal und
Spielwiese hatte sich diese für mich damals äußerst ekelhafte Population ausgerechnet
den Randbereich in den Tiefen des Donnerbalkens ausgesucht. Man stelle
sich vor, dreißig Ratten aller Altersgruppen rundum im Abstand von läppischen
0,6 bis 0,8 m vom blanken Allerwertesten! Da war an feststoffliche Entspannung
kaum zu denken. Hielt man erbost den Wasserstrahl auf die Biester - ich musste
dazu auf das Podest klettern und genau zielen - da rührten die sich kaum, weil
sie das womöglich als Duschbad verstanden. (Dass sie eher lähmende Angst haben
könnten, kam mir nicht in den Sinn.)
In Anbetracht auch der sonstigen Verhältnisse in ihrem stinkenden Lebensraum
schien mir, dass Ratten gar nicht riechen können. Ich jedenfalls konnte den
Gestank zusehendst kaum ertragen, und trotzdem zog es
mich wiederholt in das hölzerne Gelass. Ich hockte dann oft vor dem Podest und
schaute wie gebannt durch diese hölzerne Brille, während im Kopf alle möglichen
und unmöglichen Mordkomplotte kreisten.
Mit dieser Grundstimmung schlenderte ich eines Tages anschließend neugierig in
die offene Scheune. Ich hielt mich rechts an die bis auf den Durchgang mit
Schwelle geschlossene Balustrade der Tenne. Erst nach zwei, drei Schritten
hatte ich adaptiert, und da hinten entdeckte ich sie, die riesige Ratte! In
geduckter Haltung sinnierte sie offenbar schon lange über ihre Chancen. Hätte
sie mein Überraschungsmoment genutzt, wäre sie längst über alle Berge gewesen
oder hätte an meiner Gurgel gehangen, wie es mir meine Phantasie
ausmalte. Nun aber musste es zum Zweikampf kommen, zumal sich die Ratte bei
ihrer urplötzlichen Attacke konsequent nicht an meine, sondern an die
ununterbrochene Kehle von Fußboden und Tennenbalustrade hielt. Sie zögerte
allerdings zu lange. Ich hatte bereits die Mistgabel ergriffen, die zufällig
neben mir stand, und mit eindeutiger Geste erhoben. Denn auch ich wollte
angreifen. So kam mir das Scheusal dahingehend zwar zuvor, doch das nur im
richtigen Moment für mich. Ich schlug mit aller Gewalt eines Fünfjährigen zu.
Das Eisen traf das Tier ... und es war auf der Stelle tot.
Ein Kalb am Finger
Kühe waren bekanntlich kriegsbedingt äußerst selten geworden. Insofern spricht
es diesbezüglich für die aufkommende Morgenröte, dass man bei Tscherny´s (36/Kauba-Reihe) einst
wieder einem Kälbchen in die verführerischen Augen schauen und es streicheln
konnte. Bald wurde allerdings erkannt, dass man die dummen Dinger auch an der
„Nase herum führen“ konnte. Steckte man nämlich den Daumen in das noch zahnlose
Maul, dann saugten die wie die Weltmeister.
Auch für uns Dörfler war also Milch lange Zeit ein Fremdwort. Damit entfielen
immerhin viele Verführungen der Gegenwart. Heute muss ich, einer starken
inneren Triebkraft folgend, bei jedem Bäcker den Mohnkuchen kosten. Die
Unterschiede sind ja gewaltig, und man fragt sich, wie Hänschen auf den
Geschmack gekommen ist. Nun, das hat echt einen Hussinetz´schen
Hintergrund in Form der Buchtitschken. Man
brauchte freilich Milch, Semmeln, Zucker und ... Mohn. Also musste
dieser Tradition (vorzugsweise zum Jahreswechsel) erst einmal entsagt werden.
Als dann diese Zusammenstellung wieder möglich wurde, sah man damals das
Hänschen - und übrigens heute noch den Opa - beim Semmelschneiden und (wörtlich
nach Papa, der dahin gehend auch kein Kostverächter war) Pampe-Mischen.
Die gefüllte Schale wurde dann mit einem Tuch abgedeckt und abends draußen auf
die Fensterbank gestellt, wo nun noch die winterliche Kälte „hinein kriechen“
musste. Am Morgen begann der eigentliche Feiertag mit einem unglaublichen
Hochgenuss!
Im Nachkriegsschlesien wurde selbstverständlich wie früher Kuchen gegessen -
und hier musste anfangs mit Sicherheit Mamas Zauberkraft helfen - doch fehlt
mir hierzu jeglicher Bezug, außer der Erinnerung an die strammen Dolken (wie Pfannkuchen) und die fetten Liwanzen (wie Eierkuchen), jedes Teil für sich
natürlich eine Delikatesse.
Flugtaugliche
Objekte der Begierde
Der Spatz in der Pfanne und Tauben unterm Dach
Bevor im Gesiniec des Jahres 1946 auch die Spatzen
ausgerottet waren, habe sogar ich von ihrem Fleisch gekostet. Das war zu dieser
Zeit keine Schande. Man konnte die flauschigen Gesellen nicht mit der Schleuder
jagen - zu meiner Überraschung hieß diese einst zugelassene Kinderwaffe in
Sachsen „Schkozi“, was doch unmittelbar an diesen
Vogel erinnert - wenn man sie essen wollte, weil beim Treffer (wie ausprobiert)
nicht viel übrig blieb. Und von „viel“ kann sowieso nicht die Rede sein. Wollte
man vom Braten noch etwas spüren, mussten einige Streichholz-Knochen unbedingt
drin bleiben. Das weiß ich noch ganz genau. Über den Geschmack streite ich
dagegen überhaupt nicht, denn den habe ich vollkommen vergessen. Die
Gefangennahme des Federbüschels erfolgte vorzugsweise mit einem schräg auf ein
Stück Holz gestellten Netz, unter das Getreidekörner gestreut wurden. Zog man
am Faden, der am Holz befestigt war, neigte sich das Schicksal der hungrigen
Eingefangenen zu Gunsten des Jägers. Allerdings war dies ein seltenes Ereignis
bei der dörflichen Umgebung, wo sich doch die Sperlinge lieber auf den
Bauernhöfen tummelten und zudem bald das unbestimmte Schicksal der Saurier
teilten.
Es bot sich ein-, zwei Jahre später ein Ausweg an, denn die Friedenstauben
waren noch ganz aktuell. Wie die grau-bunten Tiere zu uns gekommen sind, weiß
ich nicht mehr, nur ihre ungewöhnliche Produktivität und dann wieder ihr
Totalverlust bleiben mir ewig im Kopf.
Im Dachgeschoss unseres Hauses gab es am westlichen Giebel eine Kammer.
Charakteristisch für die älteren Häuser von Hussinetz
belüftete und belichtete dort ein stets offenes kleines Fenster den darüber befindlichen
Spitzdachbereich. Es ist verständlich, dass ein Taubenpärchen eines Tages von
sich aus diesen Hort als Brutstätte vereinnahmte. Sie begannen auf der linken
Seite unter der Dachschräge, ein Nest zu bauen. Wir entdeckten es mit Füllung:
Zwei Eier! Irgendwer von uns muss die Ruhe bewahrt und die Gunst der Stunde
erkannt haben. Man wartete die Geburt zweier Nacktschnecken ab und beobachtete
quasi mit dem Zollstockauge den Wachstumsprozess und die Entwicklung des
Federkleides. Dabei ging es keinesfalls um wissenschaftliche Erkenntnisse,
sondern um den richtigen Zeitpunkt. Sie durften vor allem nicht übermäßig
flügge werden! Es bleibt nun ein Geheimnis der Altvögel, weshalb sie dann
zeitversetzt in der rechten Ecke ein zweites Nest bauten, wieder zwei Eier
legten und darauf brüteten, ohne die lebendigen Knäuel gegenüber zu
vernachlässigen. Vielleicht haben sie es den gierigen Blicken angesehen, dass
da irgendetwas mit ihrem ersten Nachwuchs nicht stimmt. Und wie sie damit Recht
hatten! Unser Krisenrat zwei Stockwerke tiefer fasste während der ersten
Flugversuche in der linken Ecke den endgültigen Beschluss, und der Zugriff
erfolgte ohne Gegenwehr der Taubeneltern. Man hörte sie nur in der rechten Ecke
gurren (kein Knurren), was man ja auch als Zustimmung verstehen konnte. So
landete diese erste Friedensbotschaft in der Pfanne. Über den Geschmack junger
gebratener Tauben lässt sich nicht streiten: Sie sind ganz einfach ein Mahl für
die Götter! Von nun an gingen beide Seiten systematisch vor. Die Tauben brüteten
im Wechsel rechts und links, und wir bedienten uns mit der entsprechenden
Phasenverschiebung. Das ging so in Harmonie einige Jahre. Dann störte jemand
den Frieden, denn das ganze Pärchen kam von einem gemeinsamen Ausflug nicht
mehr zurück. Dieses gleichzeitige Fernbleiben beider Tauben wurde von uns
natürlich zeit- und erfahrungsgemäß damit interpretiert, dass eben ein Jemand
gezielt dem Treiben ein Ende bereitet hat, der erwachsenen Vögeln in Topf und
Magen den Vorzug gab.
Man war also wieder auf den historischen Boden der Tatsachen zurück gekehrt.
Und wenn wir erneut beim Essen sind, so defilieren nun doch einige der
sonstigen Speisen an einem vorbei, die dem Hänschen zugemutet wurden oder auch
sein Leben versüßten. Über die Rapsöl-Schniete
habe ich mich ja schon aufgeregt. Sie steckt in meiner Erinnerung splitterfest
wie etwa der Lebertran, den man mir nach der Vertreibung im sächsischen
Weinböhla einflößte, um mich zurück Gebliebenen für die Schule fit zu machen.
Die echt schlesische Schnitte dagegen, mit Zucker und Wasser, wurde jedoch in
den schwersten Zeiten nachweislich zur Feinkost weiter entwickelt. Es gab aber
bei uns, Kraft Mamas Initiative und Papas Vorarbeit, noch eine viel süßere
Versuchung, doch leider auch das nur vorüber gehend.
Bienen beim Abflug und ... im Auge
Dem hölzernen Bienenschuppen am Rand des Obstgartens gelang die Überdauerung
einer ganzen vaterländischen Kriegsfront, was wohl in scheinbar paradoxer Weise
- siehe aber Abschnitt „Das Kriegskind erinnert sich“ - nur der hohen
Treffsicherheit deutscher Handfeuerwaffen zu verdanken war.
Wer waren wohl die Erbauer, wer die Betreiber der Konstruktion? (Im Jahr 1900
soll es anlässlich einer Viehzählung 37 Bienenstöcke im Dorf gegeben haben.L)
Irgendeiner meiner Ahnen züchtete also auch nebenbei Bienen, denn das Bauwerk
war absolut fachmännisch und immerhin für 10 Völker ausgelegt. Laut Mama
betätigte sich auch mein Vater bis zur Einberufung zum Militär als Imker, doch
erinnere ich mich nicht an entsprechende Bauaktivitäten. Ich vermute, die
Bienenburg entstand wohl tatsächlich zu Großvaters Zeiten, und ich weiß, dass
Mama nach dem Krieg auch an dieser Front die Initiative ergriff. Vielleicht
waren bis dahin nicht alle Bienenvölker ausgestorben. Auf jeden Fall kam wieder
vielbeiniges kribbeliges Leben in den Schuppen. Ob
sich Mama - mit Blick auf die immer hungrigen Mäuler von uns zwei Kindern - an
eine Passage des Gedichtes „Das schlesische Himmelreich“L
erinnerte? Es heißt dort nämlich unter anderem:
“Honigschnieta, doss
se klecka,
doß ma mecht
de Finger lecka.“
Jedenfalls schwirrten bald wieder zahlreich die fleißigen Bienchen glücksbringend durch unseren Lebensraum. Ja, die
Honigschnitte wurde für uns Realität, zumindest, nachdem es wieder Brot gab.
Die diesbezüglichen Mangelerscheinungen lagen anfangs, wie der Kampf um die
Äcker in den Minenfeldern gemäß Abschnitt „Hänschen im Minenkrieg nach dem
Krieg“ unterstreicht, nicht nur daran, dass ausgerechnet die stolze Bäckerei Papesch (167/Aue) ein totales Kriegsopfer geworden war, und
dieser legendäre Hussinetzer Bäcker war bereits im
Jahr 1946 nach Deutschland umgesiedelt. Es war halt eher allgemein der Auszug
aus einem schlesischen Gedicht von Albrecht BaehrL
angesagt:
“Was nuetzt a Brota
schien und gruss,
wenn ma Kartuffeln frassa muss.“
Das schlesische Himmelreich war also vorerst passe´, und nischt
von wegen
“Frassa warn ber
wie die Firschta.“
Bienen machten natürlich auch Arbeit. Ich sehe mich inmitten der
charakteristischen blauen Dunstwolken, die nun einmal notwendig waren, wenn man
sich den Tierchen handgreiflich nähern musste oder gar den Honig mopsen wollte.
Honig strotzende Waben schleudern - von Hand - das war jetzt auch für
Hänschen angesagt.
Selbst das Liebesleben dieser Spezies brachte Unruhe in unser Nachkriegsparadies.
Wenn die schwärmten, stürzten wir mit einem Eimer Wasser und einer Handpumpe
hinterher. Regen veranlasst die Königin offenbar zum Landen. Einmal hing der
schwarze Klumpen von, sagen wir, 10.000 Bienen in ziemlicher Höhe an
einem Obstbaum in Wittwars Garten (36/Kauba-Reihe) gleich nebenan. Ich sehe mich noch mit einem
Gänseflügel in der Hand eine lange Leiter hoch schleichen, um das Ding da oben
vom Ast abzustreifen, worauf es in der Tiefe in eine untergestellte Kiste zu
fallen hatte. Die Aktion war unheimlich, weil man meinte, dass die herum
schwirrenden restlichen, vermeintlich 100.000 Bienen stechen könnten. Das taten
die aber nicht, denn Liebe macht blind.
Und wie die bei anderen Gelegenheiten zuschlagen konnten! Allerdings geschah
dies immer dann, wenn man unbewusst ein Tierchen in die Enge trieb. So geschah
es dem neugierigen Hänschen in Höhe der Einfluglöcher wiederholt, dass die Enge
urplötzlich ausgerechnet im Bereich seiner Augehöhlen eintrat. Dann schwoll das
betroffene Auge vollständig zu, so dass die reichlichen Tränen in das andere
Auge umgeleitet werden mussten, und das Ganze glich hernach schon eher einem
Auszug aus dem Paradies. Da half nicht einmal das Wissen, wonach die Biene nach
dem Stich sterben muss.
Sicher lag es eher an den politischen Turbulenzen, die dann zunehmend unser
Leben bestimmten, und die Tatsache, dass Mama mit Schwerarbeit (Straßenbau in
Strehlen) und Abwesenheit bis zum Abend den Unterhalt für unsere Familie
besorgen musste, denn die Imkerei musste eines Tages aufgegeben wurde. Der
Bienenschuppen verwaiste, und neue animalische Episoden traten in den
Vordergrund. Manche liefen allerdings - wie bereits berichtet - auch von Anfang
an und zeitlich parallel ab. Doch woher kam zum Beispiel der Gänseflügel?
Die Hausgans musste Federn lassen
Tja, diese jährliche Hausgans, das Tier mit den verständnisvollsten Vogelaugen!
Wenn die gewusst hätte, was ihr so kurz vor Weihnachten blüht! Noch heute steht
eigentlich sie vor mir, wenn ich glückliche Gänse sehe. Und ich müsste auch im
Fall unserer Gans in Mehrzahl sprechen, denn es dürften deren drei gewesen sein
- 1947, 1948, 1949 - die wir verspeist haben. Auf dem Hof spazierte aber immer
nur eine, eben die Weihnachtsgans.
Sie lieferte Fleisch, Fett, Federn und ... Flügel (zum Bienen fangen). Und sie
war der auffälligste Schwarm auf unserem Anwesen, übrigens auch der meinige,
heimliche. Wenn ihr danach war, dann kreischte sie entsetzlich. Sie konnte auch
ganz reizend gurren und eben vor allem gucken. Am schönsten war jedoch der
lange Hals, vor allem wenn man daran allseits mit den Fingern einer ganzen Hand
entlang fuhr, was sie aber nicht so gern hatte.
Manchmal übersah Hänschen wohl beim Überschwang dessen eigentliche Funktion,
nämlich dass die Gans damit Luft holte. Das bekam ich spätestens bei der
vorweihnachtlichen Mast, dem sogenannten Stopfen,
deutlich mit. Das Federviech sollte viel Fett liefern, also wurde in der
Spätphase seines jeweiligen Lebens gehörig nachgeholfen. Mama bereitete dazu
mit (für mich) Geheimrezept die länglich-eierartigen glitschigen Teile vor, die
die Gans gerade so schlucken konnte (musste), wenn man mit dem Daumen kräftig
nachhalf. Dazu bedurfte es einer speziellen Stellung, damit sie nicht türmen
konnte. Man saß auf einem Schemel mit dem rückwärtigen Tier zwischen den
Beinen, so dass Kopf und Hals nach vorn über die Knie heraus schauten. Daneben
stand der Teller mit der „Munition“, sagen wir 25 Stück. Nun wurde beiderseits
am Schnabel gedrückt, so dass Öffnen angesagt war, und, flupps,
der Happen steckte im Hals. Es half kein Zungenschlag von innen. Besser war
sogar, wenn die Zunge gestreckt blieb, sonst geriet sie sofort in die Klemme,
denn nun wurde links der Kopf gehalten und mit dem Finger der rechten Hand
geschoben. Je nach Gegenwehr vergingen überaus bange Seeeekunden
... für die Gans, während denen ihre Luftzufuhr im wesentlichen unterbrochen
war. Die kurze Engstelle im Kopfbereich wurde also mit zentraler Schubkraft
überwunden, doch nun folgte die eigentliche Lang- bzw. Durststrecke, der schier
endlose Gänsehals. Tierschützer sollten jetzt die Augen schließen. Die Gans tat
das auch, und zwar im Wechsel mit durchaus beunruhigenden Luftgeräuschen. Sie
entstanden vermutlich durch den Überdruck auf der Körperseite, während man mit
Daumen und Zeigefinger der rechten Hand mit festem Griff und starken
Seitenkräften außen lang den inneren Pfropfen vom Kopf her nach unten schob.
Die unterhalb verdichtete Luft fand offenbar doch noch gelegentlich den Weg
nach draußen, so dass sie dann über die tierischen Stimmbänder strich, um
schließlich typisch gänseartig zu entweichen. Es klingt da aber noch etwas
misstönernes in meinen Ohren nach, das wohl jeder so beim Ersticken von sich
geben würde. Die ganze Zeit, seitdem der Klos im Schnabel steckte, hat die arme
Gans nämlich keine Frischluft in die Lunge bekommen! Und das Prozedere
wiederholte sich dann noch 24 mal in ziemlich schneller Folge, denn welcher
kleine Junge hat schon Lust, stundenlang eine Gans zu füttern. Auch hätte die
Gans bei Nachfrage mit Sicherheit gesagt, bringen wir es rasch hinter uns.
Jetzt, im Nachhinein begreife ich, weshalb die Aufgabe letztlich fast immer bei
mir landete. Die anderen hätten wahrscheinlich den Job seelisch nicht durchgestanden. Wer aber ist schon gnadenloser als ein gut
motiviertes, stets hungriges Hänschen? Ich erinnere an Minkas Nachwuchs.
Und was ist schon eine tote Gans pro Jahr?
Beim Schreiben dieser Zeilen springt nämlich die Erinnerung plötzlich weit
zurück in meine Frühzeit, also lange vor Kriegsende oder, sagen wir, ziemlich
kurz nach meiner Geburt. Die Welt in Hussinetz-Friedrichstein
schien in Ordnung.
Zarte Gänsefedern fliegen, junge Mädchen kichern, Frauen lachen, dann singen
alle gemeinsam die schlesischen (vor allem auch immer noch die alten
böhmischen) Lieder: Wir kleinen Gerne-Pimpfe kriechen
derweilen unter langen Tischen und dürfen ungestraft zwischen schönen
weiblichen Beinen und ebensolchen bunten Röcken herum kriechen. Man konnte die
zarten Teile auch ungestraft berühren und riskierte schlimmstenfalls ein
Aufkreischen der Inhaberin. Haben wir damals schon gezwickt? Au, war das
jedenfalls Entspannung pur, und ich vielleicht erst im zweiten Lebensjahr! Die
gute weibliche Stimmung scheint mir - aus der Retrospektive - den damaligen
Gemütszustand des ganzen deutschen Volkes zu spiegeln: Die Front entfernte sich
ja in allen Richtungen.
Vielleicht lag die noch ungestörte Stimmung auch daran, dass die Nachrichten
vom Heldentod immer längere Postwege zu überwinden hatten.
Ei, Ei, Ei!
Nun könnte jemand auf den irrigen Gedanken kommen, ich hätte nichts mit Hühnern
zu tun gehabt oder gar, es habe in Husinec-Hussinetz-Friedrichstein-Gesiniec
keine Hühner gegeben. Dem widerspricht ja eindeutig die bereits geäußerte
Tatsache vom genüsslichen Verzehr von Liwanzen, die
zwar notfalls mit wenig, aber doch nur mit Eiern zu machen waren. Ein
noch verfügbares Foto belegt sogar, dass auch unser Anwesen vor dem Krieg ein
Hühnerhof war. Ihretwegen musste ja einst sogar der Gemüsevorgarten mit einem
Staketenzaun abgetrennt werden, weil das scharrende Federvieh bekanntlich aus
jedem Grundstück eine Wüstung macht.
Nein, Hühner gab es auch wieder, nachdem sie in der Nachkriegszeit im Ort
erneut angesiedelt worden sind, denn Soldaten entwickelten ja zu allen Zeiten,
wie es die Geschichtsschreibung vermittelt, eine besondere Vorliebe zum
Hühnerfleisch-Braten, was ich gut nachvollziehen kann. Als die Front vor
unserer Schwelle das Dorf teilte, gerieten also auch unsere Eierleger unter
Kriegsrecht und daher in russische Pfannen. Von diesem Verlust hat sich nach
dem Krieg unsere Kleintierzüchtung nie erholt, und es war somit auch kein
Wunder, dass das Hussinetzer Federvieh im Mai 1945
praktisch eliminiert war.
Doch bald verkündete das markante Schmerz-Gegacker nach jeder Ei-Geburt auf´s Neue vom eigentlichen Charakter der Dorfschaft, und
die Hähne bestimmten wieder die morgendliche Stimmung sowie die Rangfolge auf
dem Hof. Auch hieß es bei uns Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ...,
und die gebeutelten Bauern hielten das für ein Faktum, denn Irrtum ist möglich,
werte Meteorologen. Oder?
Leider wurde uns bald durch Tatsachen bekannt, dass sich einige hier ansässig
gewordene polnische Überlebenskünstler auf das Zappzarapp
von Hühnern spezialisiert hatten. Dem wollten wir keinesfalls Vorschub leisten.
Daher kamen eigene Hühner auf unserem Nachkriegs-Gelände nicht vor, doch dafür
fremde.
In der benachbarten - weil männlich - besser gesicherten Bauernwirtschaft, bei Wittwar´s, waren die zutraulichen Zweibeiner jedoch bald
wieder zu Hause. Und sie folgten selbstverständlich als einzige noch wirklich
freie Dorfgenossen dem grenzenlosen unterirdischen Zug der Würmer. (Die vielen,
einst vom Alten Fritz konzessionierten Freiheiten für die Hussinetzer
Gründerväter waren demgegenüber längst von den nachfolgenden Herrscherdynastien
aufgebraucht worden. So ist es halt, wenn einem aufgeschlossenen König in Form
von konfusen Konföderaten, spleenigen Kaisern, eitlen
Demokraten und irren Diktatoren lauter Kulturbanausen auf dem Chefsessel
folgen.)
Letztendlich berührte das Politische mich freilich damals innerlich nicht im
geringsten. Irgendwer hatte mir aber beigebracht, wie man Hühner mundtot macht.
Man fing sie mehr oder weniger unauffällig - verfolgte Hühner können ja so
schrecklich laut sein - und legte sie auf den Rücken. In dieser physikalisch
symmetrischen (!) und politisch günstigen Stellung geben die doch wahrhaftig
sämtlichen Widerstand auf und verfallen in bodenlose Apathie. Es könnte
wahrhaftig sein, dass ich die eine oder andere (wie meinen Fisch von damals)
einfach vergessen habe. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann liegen die noch
heute dort, wo Hänschen sie einst abgelegt hat.
Viele Jahre später:
In der Studentenzeit verordnete man uns inzwischen hoffnungsvollen DDR-Bürgern
öfters die ungeliebten Ernteeinsätze in der „sozialistischen Landwirtschaft“.
Dort konnte ich nun endlich mein diesbezügliches tierisches Wissen an andere
weiter geben. So war es eines Tages unvermeidlich, dass wir einen ganzen
Bauernhof mit etwa 50 Hühnern und Enten quasi „auf den Rücken“ legten. Einige
meiner Kommilitonen stellten sich dabei allerdings sehr, sehr ungeschickt an,
ich meine vor allem beim Einfangen. Dadurch und auch sonst kam das Federvieh an
den unmöglichsten Stellen in der Rückenlage zur Ruhe. Es war daher nach Stunden
meine größte Sorge, dass alles wieder auf die Beine kam.
Man könnte somit den erfreulichen Eindruck gewinnen, mein Verhältnis zu den
kleinen Tieren habe sich entscheidend zum Positiven gewendet. Doch dieser
Schein trügt, denn man verpasste mir nämlich aus ganz anderen Anlässen -
vielleicht auch etwas zu Unrecht - auf mecklenburgischen Äckern den Titel „Der
Hasentöter“. Wer weiß, ob die Welt je Näheres über die Hintergründe erfährt,
doch eines steht fest, dort oben im hohen Norden der Deutschen Demokratischen
Republik gab es unheimlich viel Kartoffeln und - bis zu meinem Auftritt - noch
jede Menge Feldhasen. Einige davon landeten doch tatsächlich, dank meiner in
Schlesien erworbenen Fähigkeiten, in der bodenlosen Studentenpfanne.
Epilog
So gestört stellt sich also das Verhältnis von Hänschen mit den kleinen Tieren
dar. Da kann man nichts machen. Manche nennen so etwas erlebte Geschichte.
Insofern sind auch die Peinlichkeiten unvermeidlich, vor allem wenn sie mit
Nennung von Ross und Reiter, sprich Namen und Adressen, daher kommen. Denn auch
sie sind inzwischen unverrückbarer Teil einer tierischen Historie von Husinec-Hussinetz-Friedrichstein-Gesiniec geworden.