Beim Heimattreffen überreichte mir Frau Renate Lind einen sehr interessanten Reisebericht, den ich hier gerne veröffentliche:

Meine Reise in die Vergangenheit

von Renate Lind

 

Es begann am 04.12.1941. In einer langen Winternacht mit sehr viel Schnee kam ich als Renate Ida Schnabel in Klein Johnsdorf zur Welt. Da wir zu dieser Zeit komplett eingeschneit waren, wurde ich erst am 12.04.1942 in Prauss getauft. Am 6.08 1946 wurden wir mit den übrigen Einwohnern aus Klein Johnsdorf umgesiedelt. Unser Zug kam nach Siegen und meine Familie über Umwege über Lünen und Dortmund nach Castrop-Rauxel. Klein Johnsdorf war für mich immer ein Begriff, den ich nur aus Erzählungen kannte. Lediglich anhand einiger Fotos lebte die Erinnerung weiter. Gleichwohl hatte ich immer das Gefühl, dass in meinem Leben etwas fehlte. Leider passten die Umstände nicht, um wirklich meine Heimat zu besuchen, wenn gleich der Wunsch nie in Vergessenheit geriet. Zu meinem 70. Geburtstag dann die große Überraschung. Mein Sohn Michael mit seiner Familie überreichte mir einen Umschlag mit einem meiner Kindheitsfotos, einer Karte und dem Foto eines Hotels. Nach einigem Rätseln konnte ich es kaum glauben. Es war die Reise, von der ich immer geträumt habe. 4 Tage Schlesien Strehlen/ Prauss und Klein Johnsdorf.

Dank der Bundesheimatgruppe Strehlen, insbesondere Herrn Dr. Fleger, hatte mein Sohn bereits das Hotel (Hotel Maria) ausgesucht und eine Liste bekommen, auf der die bekannten, ehemaligen Einwohner von Klein Johnsdorf verzeichnet waren. Leider war unser Name auf der Liste nicht verzeichnet.

Obwohl ich 1946 noch zu klein war, konnte ich mich an mehrere Namen erinnern, die meine Eltern mehrfach erwähnt haben. Insbesondere die Namen Beier, Firch und Gruner, die unsere damaligen Nachbarn waren, kamen mir bekannt vor. Da Fam. Beier auch in Castrop-Rauxel wohnt, griff ich spontan einfach zum Telefonbuch und rief an. Auch auf ihrer Seite war man sehr überrascht über den Anruf. Nur entfernt konnte man sich an den Namen Schnabel erinnern. Frau Beier erzählte, dass sie schon häufiger in der alten Heimat war und, was sich später als sehr schön herausstellte, dass sie in Prauss immer einen sehr netten „Fremdenführer“ hat, „ Herrn Sobek“. Nach Rücksprache mit Herrn Sobek verabredeten wir uns mit ihm zu einem Treffen in Prauss. Am 03 Mai war es dann soweit. Mein Sohn, meine Schwiegertochter und ich machten uns nach dem Frühstück auf den Weg. Als wir um 16 Uhr in Strehlen ankamen, wurden wir durch herrliches Wetter begrüßt. Schon auf der Fahrt bemerkten wir, dass Schlesien auch heute noch immer von deutschen Einflüssen geprägt ist. Besonders die Alleen und die sanft geschwungene Landschaft nahmen uns sofort in ihren Bann. Trotz 9 Stunden Fahrt machten wir uns nach einer kurzen Pause sofort auf, um Klein Johnsdorf zu finden.Leider erwies sich unser Kartenmaterial als vollkommen unzureichend. Obwohl wir Prauss relativ schnell fanden, benötigten wir doch fast 2 Stunden für einen Weg, der eigentlich nur 10 min. dauert. Hier noch einmal herzlichen Dank an die Leute, die immer wieder versucht haben, uns den Weg auf polnisch zu erklären. Als erstes fanden wir den Steinbruch , doch die Zufahrt endete mitten im Wald. Als wir eigentlich schon aufgeben wollten, fanden wir dann doch Klein Johnsdorf.

 

Aufgrund eines heftigen Gewitters fuhren wir noch 2 mal durch das Dorf, ohne zu wissen, wo mein Elternhaus liegen könnte. Auch hier erwies sich eine kleine Karte als kaum brauchbar. Wieder im Hotel angekommen ließen wir den Abend bei einem lecken Abendessen und einem Glas Bier ausklingen. Vorab riefen wir jedoch noch Herrn Sobek an und verabredeten uns für den nächsten Tag um 10 Uhr in Prauss. Als Treffpunkt hatten wir den Friedhof in Prauss gewählt.

 

Am nächsten Morgen brachen wir mit viel Herzklopfen direkt nach dem Frühstück auf. Herrn Sobek fanden wir sofort und er zeigte uns den Teil des Friedhofs, mit den verbliebenen deutschen Grabsteinen. Einen bekannten Namen konnten wir aber nicht erkennen. Gleichwohl waren wir aber fasziniert von der Blumenpracht (meist künstliche Blumen), die auf vielen Gräbern zu sehen waren. Gleich darauf machten wir uns auf den Weg nach Klein Johnsdorf.

Mit Herrn Sobek fanden wir es selbstverständlich umgehend und wir merkten, dass wir am Vortag lediglich einmal nicht links abgebogen sind. Herr Sobek erwies sich als wundervoller Fremdenführer mit sehr guten Ortskenntnissen. Nach einem Blick auf unsere kleine Karte wusste er sofort, dass mein Geburtshaus nicht direkt in der Mitte von Klein Johnsdorf lag, sondern ein wenig weiter links an dem kleinen Bach am Rand des Dorfes.

Zuerst fiel uns die Identifizierung etwas schwer, da eines der ganz alten Häuser, es war wohl aus Holz gebaut, heute nicht mehr steht. Schließlich standen wir jedoch vor meinem Geburtshaus und ich merkte, wie alle Erzählungen meiner Eltern auf einmal lebendig wurden.

 

Ein unbeschreiblich schönes Gefühl wieder zu Hause zu sein. Selbstverständlich wurden wir sofort von den Nachbarn, die heute in dem Haus von Gruners wohnen, aufmerksam beobachtet. Nach dem Herr Sobeck aber erklärt hatte, das ich hier geboren worden bin, brach das Eis und wir wurden herzlich begrüßt.

Leider konnten wir an diesem Tag mein Elternhaus nicht betreten, weil jemand krank und man natürlich auch auf den Besuch nicht vorbereitet war. Die Nachbarin jedoch zeigte uns alle Häuser des Dorfes und erzählte jedem den wir trafen, dass ich hier geboren worden bin. Wir haben selten so viele freundliche und aufgeschlossene Menschen getroffen wie an diesem Morgen. Nach 2 Stunden verabschiedeten wir uns, und die Nachbarin versprach Frau Sosuowska von uns zu erzählen. Neugierig geworden fuhren wir im Anschluss nach Prauss zu der Kirche in der ich getauft worden bin.

Durch Herrn Sobek wurde uns auch hier ermöglicht, die Kirche von innen zu sehen. Auch hier wurde ich von meinen Gefühlen fast überwältigt. Als ich das Taufbecken sah, schossen mir Tränen in die Augen. Immer wieder kam mir der Gedanke, wie es wohl gewesen wäre, wenn ich meine gesamte Kindheit hier verbracht hätte. Anschließend gingen wir mit Herrn Sobek noch durch Prauss und er erklärte uns, wo der Laden, die Arztpraxis und die Schule gestanden haben, die ich leider nie besuchen durfte. Selbstverständlich zeigte er uns auch die alte Schmiede und die alte Mühle von Matzels, mit deren Sohn ich heute noch freundschaftlich verbunden bin. Um 15 Uhr verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, uns am nächsten Tag wieder zu treffen. Als wir ihn am nächsten Morgen abholten, hatte Herr Sobek eine große Überraschung für uns. Frau Sosuowska hatte sich gemeldet, und uns am Mittag zum Kaffee eingeladen. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich durfte mein Elternhaus noch einmal von innen ansehen.

Am Haus angekommen wurden wir herzlich begrüßt. Bei Kaffee und Kuchen kamen wir durch die Übersetzung von Herrn Sobek schnell ins Gespräch. Der emotionalste Moment war, als ich das Zimmer betrat in dem ich geboren worden bin. Von Gefühlen überwältigt liefen mir Tränen über das Gesicht. Immer wieder überkam mich die Vorstellung das hier meine Eltern gelebt haben. Die Veränderungen in den letzten 66 Jahren hielten sich sehr in Grenzen. Lediglich ein kleiner Anbau war meinem Elternhaus zugefügt worden. Selbst der Brunnen, den mein Vater auf dem Hof gebohrt hatte, existierte noch.

Nach einer ganzen Zeit verabschiedeten wir uns und versprachen, in Verbindung zu bleiben und Bilder auszutauschen. Im Anschluss ließen wir Herrn Sobek freie Hand für das weitere Besichtigungsprogramm. Wir wollten einfach nur so viel wie möglich kennen lernen. Wir begannen an dem herrlich renovierten Schloss in Kurtwitz, welches durch neue deutsche Eigentümer vollkommen wieder aufgebaut worden ist.

Leider war keiner zu Hause, sodass wir das Schloss nicht von innen besichtigen konnten. Weiter ging es durch wunderschöne Landschaften, blühenden Feldern

und unendlichen Alleen über Nimsch zur Begegnungsstätte nach Kreisau.

Das schönste hatte sich Herr Sobeck aber für den Abschluss aufgehoben. Die Friedenskirche in Schweignitz. Auch hier waren wir wieder fasziniert welche Kulturschätze in meiner Heimat vorhanden waren. Neben der Gedenkmünze nahmen wir unzählige Fotos der Friedenskirche mit nach Hause. An diesem Ort kam man wirklich Geschichte, deutsche Geschichte spüren und erleben.

Nach diesem doch recht anstrengenden Programm fuhren wir zurück zum Hotel und verabredeten uns noch mit Herrn Sobek zum Abendessen. Da wir noch 4 Stunden Zeit hatten, brachen wir nach einer kurzen Pause aber doch wieder auf, zu einem großen Rundgang durch Strehlen.

Sicher haben wir nur einen kleinen Teil der Sehenswürdigkeiten gesehen, aber besonders wichtig war für mich noch einmal den Bahnhof zu sehen, an dem wir 1946 abgefahren sind.

 

Noch heute beschäftigt mich die Frage, ob meine Eltern eigentlich wussten, wohin die Viehwaggons uns bringen würden. Vielleicht werde ich es eines Tages noch erfahren. Eine große Überraschung sollte jedoch noch kommen. Während des Abendessens sprach mein Sohn weitere Gäste des Restaurants an, weil wir anhand des Autokennzeichens erkannt haben, dass sie genau wie mein Sohn aus dem Kreis Coesfeld kamen.

Die Familie, die wir kennenlernten, war ebenfalls zu Besuch in der alten Heimat, aber nicht das erste mal wie wir, sondern schon mehrmals. Bei dem weiteren Gespräch stellte sich heraus, dass unser Gesprächspartner Herr Peter Grund war, ehemaliger langjähriger Vorsitzender der Bundesheimatgruppe.

Am nächsten Tag war unser Ausflug leider beendet. Nach einem kurzen Abstecher nach Klein Johnsdorf fuhren wir wieder nach Hause. Diese Fahrt war für uns alle eine einmalige Erfahrung. Wir wissen genau, dass dies nicht unsere letzte Reise gewesen ist.

Gleichzeitig freue ich mich aber auch schon auf Anfang September. Ich werde auf jeden Fall nach Herne kommen, um noch mehr über meine Heimat zu erfahren.